Noch kurz die Welt retten?
In der europäischen Wirtschaftskrise habe sich gerade das deutsche Sozialsystem als stabilisierend erwiesen, sagte NRW-Staatssekretär Wilhelm Schäffer (SPD) aus den Ministerium für Arbeit, Integration und Soziales. Deswegen blieben Wohlfahrtsverbände unverzichtbar.Harald Westbeld
Ehrgeizige Ziele hatte sich die Europäische Union auch schon in der Vergangenheit gesetzt und sie daher wieder in die aktuelle Strategie 2020 geschrieben. Die Zahl der Armen soll deutlich verringert werden, ist aber tatsächlich im Zuge der Finanzkrise seit 2009 von 115 auf 124 Millionen in den 28 Mitgliedsstaaten gewachsen. Zwar bleibt das Wachstum der Wirtschaft auch künftig vorrangiges Ziel, aber es ist eine ganze Reihe von Zielen formuliert, die den sozialen Zusammenhalt stärken sollen. Doch wie kann das gelingen? Mit der EU-Initiative für soziales Unternehmertum, die 2011 ins Leben gerufen wurde? Führt der Weg über (private) Sozialunternehmen? Das war einer der zentralen Diskussionsstränge der Caritas in NRW auf ihrem EU-Forum 2014 in Brüssel. Die Veranstaltung fand in der NRW-Landesvertretung statt.
Für die Caritas stelle sich die Frage, ob und "wie die benachteiligten Gruppen tatsächlich profitieren können", sagte der münstersche Diözesan-Caritasdirektor Heinz-Josef Kessmann. Skeptisch standen mehrere Referenten der Idee privatwirtschaftlicher Organisation sozialer Arbeit gegenüber, empfahlen den Wohlfahrtsverbänden aber, von innovativen Organisationen zu lernen und ihr Bemühen um die Aktivierung zivilgesellschaftlichen Engagements zu verstärken.
Prof. Dr. Bernd Schlüter von der Katholischen Hochschule Berlin ist Mitglied im europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss. Die EU-Initiative für soziales Unternehmertum sieht er kritisch: sie dürfe nicht "Teil einer neoliberalen Agenda werden", sagte er. Harald Westbeld
Eine Reihe guter Ansätze sieht Prof. Dr. Bernd Schlüter von der Katholischen Hochschule Berlin in diesem neuen Ansatz der EU, wie beispielsweise die Stärkung der Gemeinnützigkeit oder die Belebung des Genossenschaftswesens. Er warnte jedoch davor, dass die Strategie auch zum "Teil einer neoliberalen Agenda" werden könnte. Manche Ideen erschienen unrealistisch wie die Forderung, dass die Verbände nicht nur die sozialen Dienstleistungen erbringen, sondern sie auch noch selbst finanzieren sollten. Erkennbar seien Tendenzen, dass die Initiative der EU-Kommission missbraucht werden könnte. Dazu stellte Schlüter klar: "Die Strategie darf nicht dazu führen, dass sich der Staat seiner Verantwortung entzieht."
Der soziale Sektor als Wirtschaftsfaktor
Die Grenzen staatlichen Rückzugs und privatwirtschaftlicher Organisation zeigten sich beispielsweise in Griechenland. Nach dem Zusammenbruch des Gesundheitssystems sei ein deutlicher Anstieg der Kindersterblichkeit erkennbar. Die Maßnahmen, die dazu geführt hätten, so Schlüter, seien von der Troika gefordert und der EU abgesegnet worden.
Die Unverzichtbarkeit eines staatlich gelenkten Sozialsystems betonte auch Staatssekretär Dr. Wilhelm Schäffer (SPD) vom NRW-Ministerium für Arbeit, Integration und Soziales. Darin seien in Deutschland die Wohlfahrtsverbände ein unverzichtbares Element. Auch er zeigte sich gegenüber einer Privatisierung skeptisch. Gerade in der derzeitigen Krise habe sich diese besondere deutsche Organisationsform als stabilisierend erwiesen. Daneben sei der soziale Sektor nicht zuletzt ein Wirtschaftsfaktor. In Europa sei er für zehn Prozent der Wertschöpfung verantwortlich, in Deutschland für sieben Prozent. Der Maschinenbau trage dagegen nur drei Prozent bei. Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels, werde die Bedeutung der sozialen Arbeit noch wachsen.
Ariane Rodert, Mitglied im Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, bei ihrem Vortrag "Der aktuelle Stand der EU-Initiative für soziales Unternehmertum und soziale Innovationen" zum Impulsthema "Die EU-Initiative für soziales Unternehmertum und soziale Innovationen" am 1. Tag des Europaforums der Caritas in NRW in Brüssel.Harald Westbeld
Nichtsdestotrotz müsse über neue Wege nachgedacht werden. Als Beispiel nannte Schäffer die wenig erfolgreiche Ausgleichsabgabe zur Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen. Viel besser wirkten die in den letzten Jahren geschaffenen Integrationsunternehmen.
Europa entdeckt die soziale Frage
Insgesamt hat sich der soziale Sektor als Stabilitätsanker in der Krise erwiesen. Im Gegensatz zu anderen Wirtschaftszweigen sei er sogar noch gewachsen von elf auf 14 Millionen Beschäftigte europaweit, erklärte Ariane Rodert, Mitglied im Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss. Skeptisch zeigte sie sich gegenüber der Idee, soziale Arbeit künftig verstärkt über soziale Investmentfonds zu finanzieren: "Wir wollen nicht, dass künftig die Banken die Prioritäten setzen."
Gut für neue Ideen, aber weniger dafür geeignet, "noch kurz die Welt zu retten", hält Prof. Dr. Katrin Schneiders von der Hochschule Koblenz die neuen sozialen Unternehmen. Ihnen fehle häufig die Nachhaltigkeit, und sie besetzten eher nur Nischen. Sucht oder Wohnungslosigkeit seien für sie keine attraktiven Arbeitsfelder. Vor ihnen solle sich die Caritas nicht Bange machen, sondern besser selbstbewusst aufzeigen, was sie könne und leiste. Deutschland habe ein so robustes und schon fortschrittliches Sozialsystem, das sich andere Staaten wünschten. Hier rechne sie deshalb mit einem eher geringen Anteil von Neugründungen sozialer Unternehmen.
Doch das europäische Sozialmodell trägt in seiner jetzigen Form noch nicht und muss weiterentwickelt werden. Zu sehr ist es bislang an wirtschaftlichen Interessen ausgerichtet und birgt die Gefahr, dass die Staaten es nutzen könnten, sich zurückzuziehen. Positiv sei zu werten, dass "Europa zunehmend die soziale Frage entdeckt", sagte Caritas-Direktor Kessmann. Selbst wenn nicht alle Ideen aus Sicht der Caritas zu begrüßen seien. Soziale Arbeit über Fonds zu finanzieren sei ein Irrweg. Denn dies erfordere immer eine Rendite. Bewährter sei dagegen das deutsche Modell der Gemeinnützigkeit.
Schlüssel für Innovationen
Münsters Diözesan-Caritasdirektor Heinz-Josef Kessmann, Jutta Steinruck, MdEP und Terry Reintke, MdEP bei der Podiumsdiskussion unter der Moderation von Markus Lahrmann (Pressesprecher Caritas in NRW) (v. l.)Harald Westbeld
Viel Arbeit sehen trotz guter Ansätze auch die beiden Europaparlamentarierinnen Terry Reintke (Bündnis 90/Die Grünen) und Jutta Steinruck (SPD) in der neuen Legislaturperiode vor sich. Steinruck sieht eine Hauptaufgabe darin, eine bessere Anerkennung der sozialen Arbeit zu erreichen und für eine bessere Vernetzung zu sorgen. Das soziale Unternehmertum biete den "Schlüssel für Innovationen". Häufig ergäben sich aus kleinen, lokalen Projekten Ideen, von denen ganz Europa lernen könne.
Terry Reintke forderte eine genauere Definition sozialer Unternehmen, damit Konzerne sich nicht einfach durch einen sozialen Zweig Steuererleichterungen sichern könnten. Zumindest sei es schon gelungen zu klären, dass als ein Kriterium sozialen Unternehmertums die Gewinne wieder in die soziale Aufgabe reinvestiert werden müssten. Sowohl Reintke als auch Steinruck sehen es als problematisch an, dass die Europäische Kommission nach wie vor das europäische Sozialmodell vor allem unter marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten sieht.