Zuständig für Leben und Tod
"Ich muss das Recht haben zu sagen: Nein, danke, das will ich nicht." So äußerte sich der frühere MDR-Intendant Udo Reiter in der Talkshow von Günther Jauch. Ein halbes Jahr später hat Reiter seine offen ausgesprochenen Pläne wahr gemacht und mit einer Waffe sein Leben beendet. Für ihn stand diese Selbstbestimmung über allem. Als Pflegefall zu enden - diese Vorstellung konnte er nicht ertragen.
So wie er denken viele. Nach einer Umfrage des Instituts TNS Forschung im Auftrag des Spiegels kann sich jeder zweite Deutsche vorstellen, bei Pflegebedürftigkeit oder schwerer Krankheit im Alter einen Suizid zu begehen.
Auf der anderen Seite kann sich das jeder Zweite eben auch nicht vorstellen. Eine knappe Mehrheit der Deutschen befürchtet sogar, dass sich schwer kranke Menschen zunehmend gedrängt fühlen, beizeiten die Abwägung zu treffen, ob sie noch zumutbar sind für sich und andere. Kann man bei solchen Abwägungen überhaupt von freien Entscheidungen ausgehen?
Alte und kranke Menschen werden immer mehr unter Rechtfertigungsdruck geraten, ihr Leben gegen den Vorwurf zu verteidigen, sie würden für andere Menschen eine Belastung und für die Gesellschaft obendrein auch noch sehr teuer sein.
Der gesellschaftspolitische Streit geht eigentlich nur noch darum, wie eng die Voraussetzungen für das Entscheidungsrecht über das eigene Lebensende gesetzt werden. Also wie schwer krank muss man sein, oder reicht es irgendwann vielleicht auch, seines Daseins überdrüssig zu sein? Ist es also hinreichend - wie in Belgien richterlich zugesprochen -, wenn ein lebenslänglich verurteilter Straftäter seine Existenz als elend genug bilanziert, um sich selbst zu töten und dafür auch die nötigen Hilfen erwarten zu dürfen?
Es besteht kein Zweifel daran, dass jeder Mensch ein Recht auf Sterben unter würdigen Bedingungen hat, und es gibt unfassbares Leid am Ende des Lebens, körperlich wie seelisch.
Daher werden Palliativmedizin und Palliative Care im Krankenhaus immer wichtiger. Auch die Zahl der ambulanten Hospiz- und Palliativdienste hat sich seit Mitte der 90er-Jahre auf 1500 erhöht und damit mehr als verdreifacht. Ähnlich bei den stationären Einrichtungen: Gab es 1996 in ganz Deutschland nur 30 stationäre Hospize und 28 Palliativstationen, sind es 2011 bereits 195 bzw. 231.
Aber es geht in der Debatte nicht allein um die große ethische Frage, wie das Individuum sterben darf. Es geht auch um eine berufsethische Frage: Sollen Ärztinnen und Ärzte künftig neben dem würdigen Leben auch das gezielte und vermeintlich zeitgerechte Sterben ihrer Patienten sichern helfen? Das ist ein fürchterlicher Anspruch an diese Berufsgruppe und wird über kurz oder lang das Arzt-Patienten-Verhältnis deutlich verändern.
Ärztlich assistierter Suizid, Suizidassistenz, Suizidbeihilfe. Die Begriffe für das, was da im Raum steht, sind so zahlreich wie beschönigend. Die Tatsache, dass 43Prozent der Befragten einer Umfrage der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung angeben, deshalb keinen Organspendeausweis mitführen zu wollen, weil sie befürchten, der Arzt tue dann eventuell nicht mehr alles für ihr Überleben, sollte aufhorchen lassen. Wie sehr wird das ärztliche Rollenverständnis erst erschüttert, wenn aktive Sterbehilfe gesetzlicher Bestandteil medizinischer Leistung wird? Mal ganz abgesehen davon, dass wir Christen uns wegen der Achtung vor dem Schöpfer und wegen des Unverfügbarkeitsanspruchs gegenüber dem Leben nicht anmaßen sollten, Herrinnen und Herren über Leben und Tod zu sein.