Zwischen Dystopie und Utopie
Zunächst werfen wir einen kurzen Blick auf die relativ sicheren, stabilen Entwicklungen, die Deutschlands Zukunft prägen werden: Bevölkerungsrückgang, Alterung, Fachkräftemangel und der Globalisierungswettbewerb.
Vor Kurzem prophezeite Hans Werner Sinn, Chef des Münchner Ifo-Instituts, eine "unabwendbare demografische Krise in Deutschland". Die Bevölkerung Deutschlands wird bis 2035 bei gleichbleibender Geburtenrate um knapp zehn Prozent schrumpfen, also anstatt der rund 80,5 Millionen Einwohner werden nur noch 73,5 Millionen Menschen innerhalb unserer Grenzen leben. Dabei ist schon einkalkuliert, dass 100000 Menschen pro Jahr zuwandern. Um den Bevölkerungsrückgang aufzuhalten, wären weitere sieben Millionen Zuwanderer notwendig - kontinuierlich mehr als 400000 pro Jahr. Derzeit erleben wir zwar eine verstärkte Zuwanderung aufgrund der Eurokrise, aber auch die Integration der vermeintlich anpassungsfähigen Spanier oder Portugiesen bleibt eine Herausforderung - nicht zuletzt wegen der mangelnden Willkommenskultur in Deutschland.
Unsere Bevölkerung wird nicht nur schrumpfen, sondern auch altern: Der Anteil der über 65-Jährigen wird in Deutschland von heute 21 Prozent auf 32 Prozent im Jahr 2035 steigen, der Anteil der Hochbetagten sich sogar fast verdoppeln. In der Folge verschlechtert sich das Verhältnis von Rentenbeitragszahlern zu -empfängern von heute gut drei auf unter zwei Beitragszahler pro Rentner im Jahr 2035.
Mit dem sinkenden Anteil der arbeitsfähigen Bevölkerung wächst auch der Fachkräftemangel. Die deutsche Industrie rechnet mit einem Arbeitskräftemangel von fünf Millionen im Jahr 2030. Besonders verheerend sind die Folgen, weil der Fachkräftemangel eine alternde Gesellschaft mit vielen Pflegebedürftigen trifft: Schon heute wird für 2030 eine halbe Million fehlende Pflegekräfte prognostiziert. Um diesen Rückgang des Arbeitskräftepotenzials abzumildern, bedarf es neben der Zuwanderung qualifizierter Fachkräfte auch steigender Erwerbsquoten von Frauen und älteren Arbeitnehmern.
Die Globalisierung hat zu einem intensiven Wettbewerb um Rohstoffe und Wertschöpfungsprozesse geführt. Die Konkurrenz aus Ländern mit niedrigerem Lohnniveau übt Druck auf Beschäftigung und Einkommen in Deutschland aus. Rund 80 Prozent aller abhängig Beschäftigten hatten am Ende des letzten Jahrzehnts real weniger Einkommen als im Jahr 2000. Es ist davon auszugehen, dass auch in Zukunft eher mit real stagnierenden bis sinkenden Löhnen gerechnet werden muss.
Vor diesem Hintergrund werden folgende Aspekte die soziale Zukunft Deutschlands entscheiden: Wie viele Einwanderer wird Deutschland gewinnen, und wie erfolgreich verläuft deren Integration? Wie werden der Zustand und die Finanzierungslage des deutschen Sozialsystems aussehen? Wie wird die Situation im Pflegebereich sein? Und wie ist es um die Solidarität zwischen den Generationen und in der Gesellschaft allgemein bestellt? Reisen Sie mit uns in zwei denkbare Varianten des Jahres 2035 …
Deutschland im Jahr 2035: dysfunktional und resigniert
Im Jahr 2035 ächzt die deutsche Gesellschaft unter überlasteten Sozialsystemen, leidet unter Kürzungen an allen Ecken, den Ergebnissen misslungener Integrationspolitik und einem dysfunktionalem Pflegesystem. Wie konnte es so weit kommen - die Herausforderungen einer alternden Gesellschaft waren doch voraussehbar?
Insgesamt lag der gesellschaftlichen Stimmung in den letzten 20 Jahren ein Mangel an intergenerationeller Solidarität zugrunde. Anstatt sich mit den Jüngeren zu solidarisieren, weigerten sich die - proportional freilich besser vertretenen - älteren Generationen, jeglichen Renten- und Beitragskürzungen zuzustimmen. Nach dem Motto "Wir haben es uns verdient" war ab Mitte der 20er-Jahre keine Bereitschaft mehr vorhanden für die Einführung neuer Lösungen. Die jüngere Generation fühlt sich ausgebeutet und angesichts der zu erwartenden lächerlich geringen eigenen Renten aussichtslos.
Die Reformresistenz ist freilich auch im Pflegesystem spürbar. Nicht nur ist es permanent unterfinanziert - es fehlt schlicht an Personal. Unangemessene Bezahlung und Arbeitsbedingungen machen die Tätigkeit nur noch für wenige attraktiv. Den Pflegeeinrichtungen bleibt nicht viel mehr übrig, als die Pflege noch weiter auf das Nötigste zu reduzieren. Immerhin können die Einrichtungen - wenn auch gegen breiten Widerstand in der Gesellschaft - inzwischen einige grundlegende Aufgaben an Pflegeroboter übergeben, die z. B. Patienten das Essen ausliefern.
Insgesamt ist der Pflegenotstand inzwischen so massiv, dass es in einigen Regionen immer öfter vorkommt, dass Pflegebedürftige von den Einrichtungen abgelehnt werden. Verzweifelte, überforderte Bürger werden mit pflegebedürftigen Angehörigen wieder nach Hause geschickt und müssen sich allein den Herausforderungen der Vollzeitpflege, nur mit Glück unterstützt durch Tagespflegepersonal, stellen.
Gescheitert ist auch die Durchsetzung einer gezielteren und gleichzeitig offeneren Zuwanderungspolitik. Leider gelang es aufgrund der gestiegenen Überfremdungsangst nicht, eine Willkommenskultur zu etablieren, die Deutschland auch für qualifizierte Einwanderer attraktiv gemacht hätte.
Dysfunktionale Sozialrealitäten auf allen Ebenen, Kürzungen, Überlastung, Überfremdungsangst - so könnte eine Zukunft aussehen, wenn Bürger und Politik nicht frühzeitig effektiv gegensteuern, wenn die intergenerationelle Solidarität fehlt. Die Entwicklungen schaukeln sich gegenseitig auf und führen zu einem derart verfahrenen Dilemma, dass sich Resignation ausbreitet, sowohl bei den Menschen und in sozialen Einrichtungen als auch in der Politik.
Deutschland 2035: Reformen und bürgerschaftliches Engagement
Mit ganz anderen Farben und Formen kann man ein Bild vom Jahr 2035 zeichnen, wenn die Weichen frühzeitig gestellt werden und die Gesellschaft statt nur kleiner Reförmchen auch große Reformaufschläge wagt. Dann treten mutige Interventionen und Innovationen an die Stelle von ratlosem Achselzucken: Pflegenotstand ist ein Begriff von gestern, die Finanzierungslage der Sozialsysteme stabilisiert sich langsam, und der intergenerationelle Zusammenhalt zerbricht auch bei schwierigen Reformschritten nicht.
Einer der wichtigsten dieser Reformschritte war die Umstellung der arbeitskostenbezogenen Finanzierung der Sozialsysteme auf eine steuerfinanzierte Basis. Wenngleich die tatsächliche Belastung für die Steuerzahler dadurch nicht zurückging, stieg die gefühlte Gerechtigkeit hinsichtlich der Verteilung der Lasten. Entsprechend rief dieser Ansatz weniger Widerstand hervor als vorherige Versuche, Beiträge zu erhöhen. Vor allem aber ermöglichte die Umstellung dem Staat eine flexiblere Umschichtung der Haushaltsgelder.
Ein weiterer maßgeblicher Schritt war die gezielte Einwanderungspolitik, die gemeinsam mit Unternehmen, Sozialeinrichtungen und Bürgern zur Bekämpfung des Fachkräftemangels ab Ende der 2010er-Jahre eingeleitet wurde. Dazu gehört neben vereinfachten Einwanderungsregelungen und einer besseren rechtlichen Stellung der Neubürger auch die flexiblere Anerkennung von Ausbildungsabschlüssen. Besonders kleine und mittlere Betriebe werden bei der Integration von ausländischen Mitarbeitern gefördert. Die Unternehmen selbst versuchen, ihre zugewanderten Mitarbeiter mit einer offenen Unternehmenskultur und durch die Hilfe bei der Eingliederung in den deutschen Alltag neben dem Job möglichst optimal zu unterstützen. Dies ist ein wesentlicher Schlüssel dafür, dass in der Gesellschaft die positiven Seiten des steigenden Zuzugs von Ausländern inzwischen im Vordergrund stehen.
Die Pflegesituation hat sich im Jahr 2035 stabilisiert, da auf die Vernetzung aller verantwortlichen Personen und Institutionen geachtet, attraktivere Arbeitsbedingungen in der Pflege geschaffen und effizientere Pflegeprozesse - auch hier spielen Pflegeroboter eine wichtige Entlastungsrolle - eingeführt wurden. In den Städten hat das Aufkommen selbst organisierter Bürgernetzwerke, die Quartierslösungen für nachbarschaftliche Herausforderungen suchen, die Zusammenarbeit der Generationen befördert. Ob Kinderbetreuung, Nachhilfe oder Alltagsunterstützung für älter werdende Senioren im Viertel - besonders die noch rüstigen Älteren bringen sich hier nach Eintritt in den Ruhestand aktiv ein. Ihr Beitrag wird geschätzt. Auf diese Weise konnten durch bürgerschaftliches Engagement so manche Lücken im staatlichen Sozialsystem geschlossen werden. Die meisten Menschen haben im Jahr 2035 eine positive Einstellung zur Zukunft Deutschlands.
Ausblick & Handlungsoptionen
Die Beschäftigung mit der Zukunft hat auch immer etwas mit Erwartungen zu tun. Denkt der Mensch an die Zukunft, so spiegeln sich in seinen Vorstellungen seine Hoffnungen, Ängste, seine Gefühls- und Erwartungswelt der Gegenwart. Das Wirtschaftswunder des 20. Jahrhunderts brachte uns den vollumsorgenden Sozialstaat. Die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts erfordern die Besinnung auf die Leistungsfähigkeit und Selbstständigkeit des Individuums, das gleichzeitig Teil eines Netzwerks von sich gegenseitig unterstützenden Mitmenschen ist.
Wer etwas weiter in die Zukunft schauen, die Möglichkeiten der alternativen Entwicklungen betrachten möchte, für den empfiehlt es sich, für einen Moment den Krisenmodus der Gegenwart auszuschalten und die eigenen Erwartungen zu hinterfragen. Ist es wirklich so schlimm, bis 67 oder gar 70 arbeiten zu müssen? Kann ich als "Schreibtischtäter" damit leben, dass Menschen in körperlich anstrengenderen Berufen ohne Abschläge früher in die Rente gehen können als ich? Ist die frühe Gründung einer Familie vielleicht auch für Akademiker sinnvoll? Welche Gestaltungsmöglichkeiten für soziale Tätigkeiten bieten sich mir abseits der wohlfahrtsstaatlichen Vollversorgung? Diese und viele andere Fragen drängen sich auf, wenn man an das Leben im Deutschland des Jahres 2035 denkt. Denn die Zukunft entscheidet sich zu einem guten Teil auch im Kopf jedes Einzelnen.
* Dystopie, auch Anti-Utopie, bezeichnet ein Zukunftsszenario mit negativem Ausgang (die Redaktion).
** Nähere Informationen zu dem Fotoprojekt "Unsere Zukunft" finden Sie in dem gleichnamigen Beitrag
(siehe unten).
Die Autoren Cornelius Patscha und Maria Schnurr sind für das Unternehmen Z_punkt tätig. Z_punkt ist ein international tätiges Beratungsunternehmen für strategische Zukunftsfragen. Die Mitarbeiter verstehen sich als Experten für "Corporate Foresight" - die Übersetzung von Trend- und Zukunftsforschung in die Praxis des strategischen Managements.