Mein Auto, mein Haus ...
"Distinktion" ist ein Fachbegriff in diesem Zusammenhang - oder um es mit Pierre Bourdieu, einem der Altmeister der Kultursoziologie, zu sagen: Es geht um die "feinen Unterschiede".
Diese hat es in der menschlichen Geschichte immer gegeben, und häufig waren es nicht nur feine Unterschiede: Schlösser und Burgen, Kirchen und Klöster, Porzellan und Gemälde sind sichtbare Zeichen von Distinktion. Diese scheint für viele erst dann zum Problem zu werden, wenn sie nicht von den oberen Zehntausend, sondern von den unteren Millionen auf ihre Weise gelebt wird: "Muss mein Nachbar, der von Hartz IV lebt, denn wirklich ein iPhone haben?"
Ja, natürlich "muss er" - sage ich in einem ersten Anlauf mit Blick auf die Frage der sozialen Identität, die jeden Menschen umtreibt. Und ich will diese These in der hier gebotenen Kürze mit Erkenntnissen aus zwei sozialwissenschaftlichen Konzepten unterfüttern: dem Konzept von Bourdieu und dem der Sinus-Milieu-Forschung.
Wenn wir Pierre Bourdieu folgen, dann gibt es vor allem drei Möglichkeiten der Distinktion, um die eigene Rolle, den persönlichen Status, zu klären, den Habitus zu entwickeln:
- durch das soziale Kapital - das je individuelle Netz an sozialen Beziehungen. (Damit es konkreter wird: Überprüfen Sie einmal Ihre Möglichkeiten, durch Beziehungen an eine Arbeitsstelle, an eine Wohnung, an einen juristischen Rat zu kommen - und vergleichen Sie diese Möglichkeiten mit denen anderer Menschen.)
- durch das kulturelle Kapital - und hier vor allem die Bildung, die einen Nutzen im sozialen Beziehungsgeflecht bietet. (Überprüfen Sie Ihre Möglichkeiten, an bestimmten Diskursen teilnehmen zu können: über die demografische Entwicklung - oder über die Verknüpfung der Higgs-Teilchen mit dem Modell der Supersymmetrie - oder über die Besetzung des Amfortas bei der diesjährigen Parsifal-Inszenierung der Bayreuther Festspiele. Und vergleichen Sie diese Möglichkeiten mit denen anderer Menschen.)
- durch das ökonomische Kapital - und hier v.a. den Besitz von Vermögen in Form von Geld oder bestimmten Konsumgütern. (Überprüfen Sie Ihre Möglichkeiten, den diesjährigen Sommerurlaub, den notwendigen Zahnersatz und die fällige Autoreparatur "unter einen Hut zu bekommen" - und vergleichen Sie diese Möglichkeiten mit denen anderer Menschen.)
Was machen Menschen am unteren sozialen Rand der Gesellschaft - und dieser soziale Ort wird definiert durch Einkommen und Besitz, durch formale Bildung und beruflichen Status -, die für sich bei allen drei Kapitalformen nur eine "Grundausstattung" konstatieren können und die dies auch immer wieder gesellschaftlich bestätigt bekommen? Das iPhone - oder die D&G-Tasche oder das aktuelle Trikot der Nationalmannschaft - bietet ihnen eine real erreichbare Möglichkeit zu zeigen, dass sie auch etwas wert sind - nach den gesellschaftlich anerkannten Maßstäben.
Die Lebensweltforschung ergänzt seit vielen Jahrzehnten diese Erkenntnisse mit Konkretisierungen in unterschiedlichen sozialen Milieus. Dieses Wissen ist über die Sinus-Milieus auch von vielen Akteuren in der kirchlichen und der sozialen Arbeit adaptiert worden. Weniger Berücksichtigung hat bislang eine Studie gefunden, die das Sinus-Institut im Jahr 2007 im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung durchgeführt hat. Im Mittelpunkt stand die Frage: Welchen Sinn verbinden Menschen in unterschiedlichen Milieus mit Werten wie Leistung, Solidarität, Gerechtigkeit oder Freiheit?*
Aus dieser Studie kann hier nur ein Ergebnis skizziert werden: Was verbinden Menschen in unterschiedlichen Milieus mit dem Wert "Freiheit"? Postmaterielle verbinden damit "eine innere Haltung, unabhängig sein von materiellen Dingen". Für Konservative bedeutet Freiheit "Rückzug in Einsamkeit und Natur, um die persönliche Balance wiederzufinden". Etablierte betonen: "Im Zentrum der Freiheit steht Geld - das bedeutet Unabhängigkeit." Für Konsum-Materialisten - im Modell von Carsten Wippermann nun Benachteiligte genannt - ist Freiheit "der unerreichbare Traum vom plötzlichen Reichtum: eigenes Haus, Auto, Geld".
Die Milieus am oberen und am unteren Rand treffen sich demnach bei ihrer "Bewertung des Wertes Freiheit": Den Kern ihrer sozialen Identität scheint das ökonomische Kapital, der Besitz von Geld und anerkannten Konsumgütern, auszumachen: "Ich bin, was ich habe." Nur: Der eine hat’s und der andere (fast) nicht.
Dieser Beitrag erscheint im Rahmen des Themas "Überschuldung", des inhaltlichen Schwerpunkts dieser Ausgabe von "Caritas in NRW". Für viele Leserinnen und Leser in den Einrichtungen und Diensten der Caritasverbände ist "Überschuldung" nicht nur ein Thema, sondern begegnet ihnen als bedrohliche Realität für viele Menschen, die zu ihnen kommen oder zu denen sie gehen. Von daher lesen sie diesen Text vermutlich aus der Perspektive: Was finde ich darin an Hilfestellung für meine soziale Arbeit?
Nun ist es in der Regel mit sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen so, dass sie die Problemwahrnehmung und die -analyse unterstützen und fördern und nur selten Hilfestellungen für das konkrete Handeln liefern. Ich will’s trotzdem mit drei Anregungen versuchen:
- Gehen Sie in Ihrer Arbeit von der Hypothese aus: Wenn’s ums Geld geht, dann geht es für viele Menschen, denen Sie begegnen, ums Ganze. Eine Verschuldung ist für sie nicht erstrebenswert, aber ein "notwendiges Übel", um eine zumindest fragile soziale Identität aufrechtzuerhalten: "Ich bin doch was wert." Von daher ist "Entschuldung" als das Ziel des helfenden Profis in der Regel nicht das zentrale Ziel des Hilfesuchenden. Diesem geht es eher um "Stressvermeidung" bei gleichzeitigem Wunsch, das Konsumverhalten nicht ändern zu müssen.
- Es ist verständlich, dass diese hilfesuchenden Menschen hochsensibel sind gegenüber jeglicher Kritik an ihrer Situation und ihrem Verhalten. Vor allem wenn sie von Caritas-Akteuren geäußert wird, die zumindest aus der Perspektive der Hilfesuchenden auf der Sonnenseite des Lebens stehen. Kontrollieren Sie deshalb Ihre verbale und nonverbale Kommunikation im Hinblick auf mögliche Identitätsverletzungen.
- Helfen Sie den Ratsuchenden, eine Rangliste der für sie hochbedeutenden Konsumgüter zu erstellen. Auf einer solchen Basis können diese möglicherweise eher "Trennungs-Entscheidungen" treffen.
Und dann kann es sein, dass das iPhone als Zeichen einer partiellen gesellschaftlichen Inklusion übrig bleibt.
* Die Studie ist veröffentlicht in: Carsten Wippermann, Milieus in Bewegung, Echter Verlag, Würzburg 2011.