Bald knallt's
Gut geht es dem Menschen, wenn er sie nicht braucht. Wehe aber, er braucht sie - und sie kommt nicht. Gemeint ist die Pflege, genauer: die ambulante Pflege, also die Pflegekraft aus der Sozialstation in der Nachbarschaft. Wer selbst pflegebedürftig ist oder einen nahen Angehörigen hat, der zu Hause versorgt und gepflegt werden möchte, der ist dankbar, wenn eine Fachkraft kommt. Eine Pflegerin, die nicht nur die nötigen Handgriffe beherrscht, sondern auch Zeit für ein paar aufmunternde Worte hat. Und den Blick für das Drumherum. Doch dafür ist keine Zeit.
Trotzdem besteht nach wie vor hoher Bedarf an ambulanten Pflegedienstleistungen, immer mehr Menschen möchten im Alter möglichst lange zu Hause leben bleiben und dabei angemessen versorgt werden. Hinzu kommt: Der Fachkräftemangel spitzt sich zu. Die Konkurrenz zu den privaten Anbietern, die häufig nicht in der Weise tarifgebunden sind wie die Caritas-Pflegedienste, erschwert die Situation, ohne dass man hier von Marktwirtschaft zugunsten des Patienten sprechen kann. Was sagen Experten?
Schwester Britta kommt nicht mehr
Die Situation der ambulanten Pflege vor Ort ist sehr verschieden. Im Erzbistum Paderborn gibt es ganze Regionen, in denen nur noch die Wohlfahrtspflege übrig geblieben ist. In größeren Städten und Ballungsbereichen gibt es dagegen eine hohe Verdichtung von privaten und Wohlfahrtspflegediensten.
Es wird erwartet, dass eigentlich innerhalb kürzester Zeit, sozusagen auf Zuruf (oft innerhalb von einer bis drei Stunden), die Pflegedienste aktiv werden und die pflegerische Versorgung übernehmen, als wenn Mitarbeiter auf Wartestühlen sitzen und warten, dass eine Arztpraxis, ein Krankenhaus oder Angehörige anrufen.
Aufgrund des Fachkräftemangels und der schlechten Rahmenbedingungen bei der Vergütung der häuslichen Krankenpflege gehen private Pflegedienste immer häufiger dazu über, Patienten mit hohem Pflegeaufwand oder mit weiter Anfahrtsstrecke nicht mehr zu versorgen. Seitens der Wohlfahrt wird dies bisher eher noch nicht praktiziert. Hier wird über den Weg von "Einzelvereinbarungen" und "Leistungsabrechnung nach Fachleistungsstunden" versucht, den hohen zeitlichen Aufwand wegen der Wegstrecke oder die Pflegezeit refinanziert zu erhalten.
Schleichend und mit wenig Öffentlichkeit werden heute schon Menschen auf entlegenen Dörfern oder mit hohem Pflegeaufwand nicht mehr oder nicht mehr selbstverständlich übernommen und gepflegt. In Einzelfällen finden Einzelabsprachen über Fachleistungsstunden mit Krankenkassen statt, die verstanden haben, dass sie für ihre Mitglieder entsprechende Rahmenbedingungen zur Versorgung klären müssen. Krankenkassen und Ärzte müssen heute schon mehrere Dienste anrufen, um einen Pflegedienst zu finden, der eine freie Kapazität hat oder bereit ist, den Einsatz zu übernehmen.
Pflege im Pauschaltakt
Wir arbeiten nach Pauschalsystemen. Wer länger als pauschal vorgesehen pflegt, fährt in die Unterdeckung und gefährdet den Dienst. Das eigentlich attraktive Arbeitsfeld für Pflegefachkräfte in der Eins-zu eins-Betreuung wird unter solch einem Zeitdiktat um seinen Reiz gebracht. Bürokratie und Prüfungen, von der Politik unter dem Aspekt des Schutzes entwickelt, tragen zur Belastung bei. Dabei müssten zwischenmenschliche Betreuung und Pflege durch unsere Gesellschaft gewürdigt werden, auch in der Refinanzierung.
Die hohen Ansprüche, die Kassen und Gesetzgeber vorgeben, werden bei der finanziellen Vergütung ebenfalls nicht berücksichtigt. Insbesondere bei Leistungen nach SGB V wird der Organisationsaufwand immer höher, da das Verordnungs- und Genehmigungsverfahren immer komplizierter wird. Hier werden durch den Pflegedienst Aufgaben übernommen, die nicht in seine Zuständigkeit fallen, wie zum Beispiel:
- das Einholen der Verordnung vom Arzt,
- die Anleitung der Arzthelferinnen beim inhaltlich richtigen Ausfüllen der Verordnungen,
- die Klärung der verordneten Leistungen durch den Arzt, wenn von der Krankenkasse anders als verordnet genehmigt wird. Hier erfolgt lediglich eine Information der Kasse an den Kunden, Arzt und Pflegedienst. Eine Sicherstellung der durch den Arzt verordneten Leistung erfolgt durch die Krankenkasse nicht.
Seit Jahren führen die Verhandlungen zu den Vergütungen und den Rahmenbedingungen zu keinem akzeptablen Resultat. Der Weg in die Schiedsstelle ist langwierig und aufwendig.
Die Schiedsperson hat im Herbst letzten Jahres in Anlehnung an die Grundlohnsummensteigerung eine Erhöhung der Vergütungen um 1,98 Prozent entschieden. Bei AVR-Tarifsteigerungen vom Sommer 2012 bis Sommer 2013 in Höhe von 5,3 Prozent ist das nicht akzeptabel. Auch einzelne Leistungen in der Wundversorgung können mit Vergütungen von 9,53 Euro oder 12,33 Euro nicht kostendeckend erbracht werden. Die Dienste haben keine rechtlichen Möglichkeiten, mehr zu erreichen.
Wer die Musik bestellt, muss sie auch bezahlen!
Der Wunsch vieler Menschen, im Alter so lange wie möglich in der eigenen Wohnung zu bleiben und im Bedarfsfall Leistungen ambulanter Pflegedienste in Anspruch zu nehmen, ist nur zu verständlich. Und er deckt sich - gerade im Hinblick auf die demografische Entwicklung - mit der Vorgabe von Politik und Krankenkassen, die gleichlautend "ambulant vor stationär" fordern.
Um also dem verständlichen Wunsch der Menschen, der Politik und der Kassen Rechnung tragen zu können, müssen die Pflegedienste in die Lage versetzt werden, ihre Arbeit zu auskömmlichen Bedingungen zu tun. Dazu gehört unter anderem, dass die Mitarbeiter angemessen entlohnt werden.
Gerade im Bereich der Pflege scheinen aber die sonst üblichen Gesetze der Wirtschaft auf den Kopf gestellt zu sein: Seit Jahren wird allerorten über die mangelnde Zahl gut ausgebildeter Pflegefachkräfte geklagt, aber eine entsprechend gute Bezahlung, um den Beruf attraktiv zu machen, kann von den Pflegeunternehmen nicht geleistet werden, da es keine ausreichende Refinanzierung seitens der Krankenkassen gibt.
Die Ausgaben für die ambulante Pflege liegen bei 3,16 Mrd. Euro im Jahr. Das sind gerade einmal 2,14 Prozent der Gesamtausgaben der Kassen in Höhe von 168,74 Mrd. Euro. Die finanziell gut ausgestatteten Krankenkassen haben derzeit die ausreichende Finanzierung der Pflegedienste nicht im Blick (auch nicht im Hinblick auf die Kompensierung von Kosten im stationären Bereich).
Die Anforderungen an eine gute Pflege werden dagegen immer höher: Dokumentations- und Nachweispflichten nehmen immer mehr Zeit der Pflegekräfte in Anspruch. Aber: Diese Arbeit muss - wenn sie "on top" kommt - auch "on top" bezahlt werden. Und dabei ist es wie sonst auch im Leben - wer die Musik bestellt, muss sie auch bezahlen. In diesem Fall Krankenkassen, die das Geld ja von den Versicherten bereits eingezogen haben.
Die Belastungsgrenze ist erreicht
In den letzten Jahren haben die Träger der ambulanten Pflege auf den Kostendruck reagiert. Die Organisation wurde verändert, die Arbeit verdichtet. Doch die Kassen geben ein unheilvolles Signal: Der Preis für ein Produkt oder eine Dienstleistung drückt immer eine Wertschätzung aus. Zurzeit signalisieren die Kassen in NRW (aber nicht nur hier), dass ihnen die Arbeit der Pflegekräfte wenig wert ist. Tarifsteigerungen in den letzten drei Jahren, die allgemein in Wissenschaft und Politik begrüßt worden sind, werden nicht anerkannt. Allgemeine Kostensteigerungen z.B. für die Fahrzeuge, auf die eine ambulante Pflege zwingend angewiesen ist, werden vom Tisch gefegt.
Wie sollen dringend benötigte Fachkräfte für die ambulante Pflege geworben werden, wenn die gerechtfertigten Ansprüche der Mitarbeiter mit Füßen getreten werden? Fatal!
Demütig das Diktat der Kassen anzuerkennen führt mittelfristig in den Ruin. Die Arbeit der Pflegekräfte weiter zu verdichten ist kaum mehr möglich. Die Belastungsgrenze der Mitarbeiter ist erreicht.
Wie sieht die Zukunft aus, wenn die Kassen sich in den Vergütungsverhandlungen nicht bewegen? Kann man drohen, die Pflege vorübergehend einzustellen? Pflegebedürftige Menschen als Druckmittel nutzen? Was im Bahn- und Luftverkehr noch zähneknirschend hingenommen wird, verbietet sich bei kranken und pflegebedürftigen Menschen, die in aller Regel auf fremde Hilfe angewiesen sind.
An der Qualität zu sparen? Toleriert der Patient das, nachdem in der Öffentlichkeit gerade die Qualität in der Pflege kritisiert und Verbesserungen eingefordert werden?
Nehmen die Politik, die zuständigen Ministerien, die Aufsichtsbehörden das Problem wahr? Oder ducken sie sich weg, weil nichts unpopulärer ist als steigende Kosten im Gesundheitsbereich? Wie denken die von den Versicherten gewählten Vertreter in den Aufsichtsgremien der Kassen? Wissen sie um die Probleme?
Ändert sich in der Politik, die die gesetzlichen Voraussetzungen für Vergütungen setzt, nichts, ändern die Kassen in den Verhandlungen nicht die Strategie, für weniger Geld mehr Leistungen zu erhalten, werden sich schleichend - nicht nur katholische - Träger aus der ambulanten Pflege zurückziehen. Die Kassen werden schon wissen, wie sie dann den Sicherstellungsauftrag erfüllen können, zumindest in der Theorie.
Unterversorgung auf dem Land
Konkurrenz leitet sich aus dem lateinischen Wort "Concurrere" ab. Übersetzen lässt sich das mit "um die Wette laufen".
So stellte sich der Markt für ambulante Pflegeanbieter über viele Jahre nach der Einführung der Pflegeversicherung dar. Als größte Wachstumsbranche in der Bundesrepublik warben die Pflegedienste mit Leistungsversprechen um ihre Patienten und deren Angehörige. Diese konnten jetzt aus einer Vielzahl von Anbietern aussuchen. Gerade die Alten- und Krankenpflegedienste der Caritas haben dadurch einen enormen Wachstumsschub erfahren. Aus der Tradition der Gemeindekrankenschwester kommend und mit einem dem Patienten und Beschäftigten zugewandten christlichen Leitbild, sind wir heute gefragter denn je.
Aktuell vollzieht sich ein Wechsel vom Nachfrager- zum Anbietermarkt. Denn Fachkräfte zu gewinnen wird immer schwieriger. Wo gestern der Patient den Pflegeanbieter ausgesucht hat, wählt heute der Mitarbeiter seinen zukünftigen Dienstgeber. Dieser wiederum kann nur so viele Patienten versorgen, wie er Mitarbeiter findet. Inzwischen droht eine spürbare Unterversorgung im ambulanten Bereich.
Vor allem ländliche Regionen mit wenigen Anbietern und langen Anfahrten zum Patienten sind betroffen. Trotz unseres christlichen Leitbilds ist es auch für unsere Dienste nicht einfach, Auszubildende und Pflegefachkräfte zu gewinnen. Die Arbeitsbedingungen erscheinen wenig attraktiv. Die physische und psychische Belastung ist oft hoch. Sie wird noch steigen, weil immer mehr demenziell und psychisch erkrankte Patienten zu versorgen sind.
Es fehlt öffentliche Wertschätzung, auch in den Medien. Wenig förderlich ist auch die ständige Diskussion um Lohnsummensteigerungen und Refinanzierung.
Hier muss Politik eingreifen und den Begriff der Pflegebedürftigkeit neu gestalten und die Bindung der Refinanzierung an die Grundlohnsummensteigerung abschaffen. Ansonsten ist zu befürchten, dass eine flächendeckende Versorgung mit ambulanten Pflegeleistungen zukünftig nicht sicherzustellen ist.
Krankes System der Leistungsberechnung
Die Behandlungspflege (§ 37 SGB V) wird heutzutage nach Leistungsgruppen abgerechnet - unabhängig von der Anzahl der verordneten Leistungen. Das bedeutet in einem Beispiel:
Verschreibt der Hausarzt einem Patienten eine Blutzuckermessung, kann der Pflegedienst dafür 8,94 Euro abrechnen. Verschreibt er ihm aber Blutzuckermessung und zusätzlich Medikamentengabe und das Anziehen der Kompressionsstrümpfe, kann der Pflegedienst auch nur 8,94 Euro abrechnen, da alle drei Leistungen zu einer Gruppe gehören. Also - ein Mehrfaches an Zeitaufwand. Und dass diese Zusatzbelastung ohne finanziellen Ausgleich für den Pflegedienst betriebswirtschaftlich nicht aufgehen kann - das sieht wohl jeder ein …