Im Trend
1. Anwachsende, positive Lebensrealität Alleinerziehender
Zunächst zum Anstieg der Familienform Alleinerziehend im Vergleich zu den anderen Familienformen der Ehepaare mit Kindern und der Lebensgemeinschaften mit Kindern (s. Abb. 1).
Diese Mikrozensusauswertung zeigt (eigene Berechnungen; Statistisches Bundesamt 2011*), dass die Zahl der Ehepaare mit Kindern in den vergangenen 13 Jahren um rund 8 Prozent abgenommen hat, wohingegen die Anzahl der Alleinerziehendenfamilien im selben Zeitraum um ca. 5 Prozent und die Zahl der Lebensgemeinschaften mit Kindern und rund 3 Prozent angestiegen sind. Im Jahr 2009 wird bundesweit fast jede vierte Familie in Deutschland von einer Alleinerziehendenfamilie gestellt, dieser Trend gilt auch für Nordrhein-Westfalen. Der Anteil Alleinerziehender an allen Familienformen (11,9 Mio. Personen) beträgt 22,12 Prozent (2,6 Mio. Personen). Das Gros der Alleinerziehenden sind nach wie vor die Mütter. Sie sind im Jahr 2009 mit 87 Prozent (2,28 Mio. Personen) im Vergleich zu den allein erziehenden Vätern mit 13 Prozent (0,35 Mio. Personen) deutlich stärker in der BRD vertreten.
Unter anderem die jüngsten Ergebnisse der TNS-Emnid Umfrage "Familie" (Bertelsmann-Stiftung 2011*) verweisen darauf, dass sich dieser Trend aller Voraussicht nach fortsetzen wird. Demnach vertreten Verheiratete ebenso wie die Familien selbst die Ansicht, dass die klassische Familie in der Zukunft an Bedeutung verlieren wird. 59 Prozent der Befragten erwarten einen Bedeutungsverlust des "Male Breadwinner Modells", d. h. des Modells, in dem der Mann das Einkommen für die Familie erzielt und die Frau für die Kindererziehung zuständig und nicht erwerbstätig ist. Fast 90 Prozent der Befragten sind der Meinung, dass für Alleinerziehende und für Patchwork-Familien die gleichen gesetzlichen Regelungen gelten sollten wie für die klassische eheliche Familie auch.
Alleinerziehende sind im Aufwind. Sie leben in der Realität hoch differenziert und gelten empirisch belegt als heterogene Familienform (Brand/Hammer 2002, S. 63ff.*). Tendenziell rund einem Drittel geht es ausgesprochen gut, das sind meist diejenigen, die über gute Schul- und Berufsqualifikationen, neue Partnerschaften, gelingende Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie über hinreichende Unterstützungsnetzwerke verfügen. Diese Befunde aus dem Bundesland Thüringen zeigen, dass Alleinerziehende bei Weitem keine defizitäre Lebensform mehr sind.
2. Schwierigkeiten in der Lebenslage und besondere Risiken
Problematisch wird es erst, wenn einige Risikofaktoren zusammen kommen. Das ist immerhin bei rund zwei Drittel aller Alleinerziehenden der Fall (ebd.*). Bei diesem relativ hohen Anteil gilt es erneut zu unterscheiden. Hilfreich ist eine Fokussierung der lagespezifischen Kriterien bei Beratungsanliegen Alleinerziehender. Dabei wird vor allem deutlich, dass sich die Risikokriterien in folgenden Aspekten zuspitzen (Hammer 2004, S. 121f.*):
- Geringer Schulabschluss
- Un- und angelernte Arbeiter/-innen
- Schwierige Familiensituationen und -biografien
- Geringes Haushaltseinkommen
- Belastende finanzielle Situation
- Erfordernis von Wertschätzung
- Krankheit der Kinder oder der allein erziehenden Person
- Fehlende soziale und institutionelle Netzwerke
- Mangelhafte Kinderbetreuungssituation
- Jüngere Alleinerziehende mit kleineren und/oder mehreren Kindern
Hinzu kommt, dass im Falle von Arbeitslosigkeit, Transferleistungsbezug oder Elternzeit die allein erziehenden Mütter und nicht die allein erziehenden Väter die besonderen Risiken haben (Hammer 2002, S. 194ff.*). Sämtliche gerade aufgezeigten Kriterien sind - jeweils für sich alleine betrachtet - häufig noch keine hinreichende Begründung für eine prekäre Lebenslage. Sie treten jedoch gemeinsam mit anderen der genannten Risikomerkmale auf. In der konkreten Fallberatung bei Jobcentern, psychosozialen Beratungsstellen, Gesundheitszentren usw. verschwimmt meist dieses analytische Bild, weil die Alleinerziehenden im Alltag die damit einhergehenden Überlastungsphänomene oder Erziehungs-schwierigkeiten ansprechen und nicht die strukturell zu betrachtenden Kontextbedingungen.
Viele Belastungsfaktoren kreisen um den Bezug von Transfereinkommen. Die Quote des SGB-II-Leistungsbezugs von Alleinerziehenden liegt in Nordrhein-Westfalen bei 46,5 Prozent, ebenfalls liegt die Armuts-risikoquote doppelt so hoch wie bei Paargemeinschaften mit mindestens einem Kind (MAIS 2011, S. 2f.*). Die Verweildauer im SGB-II-Leistungsbezug ist bei den Alleinerziehenden am längsten, gemessen an den anderen Bedarfsgemeinschaftstypen der Paargemeinschaften mit Kindern und den Singles (ebd., S. 14*). Insgesamt ist es in Deutschland schwieriger geworden, aus der Armut wieder herauszukommen, d. h., Armut verfestigt sich in einem Maße, wie es in der Geschichte der Bundesrepublik beispiellos ist. Diejenigen, die der einfachen Arbeiter-klasse angehören sowie diejenigen aus der Facharbeiterklasse haben das stärkste Armutsrisiko (Groh-Samberg 2010, S. 15*). "Ein starker Anstieg der Armutsquoten lässt sich insbesondere bei Personen in Allein-erziehenden-Haushalten und in Haushalten mit drei und mehr Kindern beobachten." (ebd.*). Es stellt sich konsequenterweise die Frage, was angesichts der Verfestigung von Armutslagen, von denen Alleinerziehende mit den genannten Risikokonstellationen in besonderem Maße betroffen oder gefährdet sind, zu tun ist.
3. Ansätze zur Verbesserung der Lebenslagen und politische Forderungen
Gesellschaftspolitisch betrachtet müssten auf einigen Achsen Verbesserungen eingeleitet werden. Beispielsweise bei den Frühen Hilfen, den Kinderbetreuungsangeboten, dem Unterhaltseinforderungssystem, den kommunalen Sozialberichterstattungen bis hin zum Steuersystem in der Bundesrepublik Deutschland. Im Zuge einer Reform des Steuersystems sollte eine Abkehr vom Ehegattensplitting erwogen werden, s.a. Vorschläge zu einer Kindergrundsicherung (König 2010, S. 60ff.*). Zwingend erforderlich bleiben die Stärkung und Sicherung der Transferleistungen, z. B. die Erhöhung der Hartz-IV-Leistungen, sowie die Einführung von gesetzlich garantierten Mindestlöhnen. Damit können zum einen eine deutliche Entschärfung der Zumutungen des Niedriglohnsektors erwirkt werden. Zum anderen könnten Alleinerziehende in schwierigen Lebenslagen viel mehr in Menschenwürde leben und sie kämen der Zielerreichung eines Lebens in durchschnittlichem Lebensstandard ebenfalls näher.
Der fallspezifische Bezug kann in Kombination mit einem feldorientierten Blick in der Beratung, Moderation und Steuerung durch Professionelle, z. B. in der Institutionellen Sozialarbeit (Hammer 2011b*), eine Verbesserung in den Lebenslagen herbeiführen. Dies gilt für einigermaßen günstige Kontextbedingungen, in denen durch die Vermittlung von Kinderbetreuung oder durch einen familienkompatiblen, den Lebensunterhalt sichernden Arbeitsplatz der Ausstieg aus einem sich kumulierenden Dilemma geschafft werden kann. Geeignete Beratungskriterien zur Analyse der Lebenslage in der Beratung sind: Haushaltseinkommen und Versorgung, Kinderbetreuungsnetzwerk, Bildungs- und Berufssituation, Kontakte und Kooperationslage, Erholungsmöglichkeiten, Schutz, Geborgenheit, Balance, Beteiligung und Aktivitäten im Leben, Rolle als Hauptversorger/-in und Mutter bzw. Vater, Sozialbindungen. In der Koppelung mit vor Ort vorhandenen institutionellen Netzwerken (Unternehmens-, Kinder- und Erwachsenennetzwerke) liegt ein weiterer hilfreicher Zugang zum Lösen spezifischer Problemstellungen bei Alleinerziehenden in Risikolagen, vor allem zur Unterstützung des Zeitmanagements.
Aktuelle und hilfreiche Ansatzpunkte zum bedarfsgerechten Aufbau von regionalen Produktionsnetzwerken für Alleinerziehende in besonderen Lebenslagen liefern die Evaluationsbefunde zu einem vom BMFSFJ von 2009 bis 2010 laufenden Modellprojekt. Die Ergebnisse sind in Form eines Praxishandbuches und eines wissenschaftlichen Endberichtes im Internet über www.handbuch-alleinerziehend.de abrufbar (Reis 2011*).
Literatur
Bertelsmann-Stiftung (2011): TNS-Emnid Umfrage "Familie". Berlin.
Brand, Dagmar / Hammer, Veronika (2002): Balanceakt Alleinerziehend. Lebenslagen, Lebensformen, Erwerbsarbeit. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.
Groh-Samberg, Olaf (2010): Armut verfestigt sich - ein missachteter Trend. In: APuZ 51-52/2010, S. 9-15.
Hammer, Veronika (2002): Alleinerziehende im Gender-Diskurs - Unterschiede oder Gemeinsamkeiten bei Müttern und Vätern? In: Zeitschrift für Familienforschung 14, S. 194-207.
Hammer, Veronika (2004): Die Transformation kulturellen Kapitals. Berufliche Weiterbildung für Risikogruppen allein erziehender Frauen. VS-Verlag: Wiesbaden.
Hammer, Veronika (2011a): Aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse zu Alleinerziehenden in Deutschland. In: BZgA Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Hg.): FORUM 1/2011
Hammer, Veronika (2011b): Institutionelle Sozialarbeit. In: Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge (Hg.): Fachlexikon der Sozialen Arbeit. Nomos-Verlag: Baden-Baden. S. 450-451.
König, Barbara (2010): Auf dem Weg in die Kindergrundsicherung?! Warum der Wandel von der Familienförderung zur Kinderförderung möglich und notwendig ist. In: Lutz, Ronald / Hammer, Veronika (Hg.): Wege aus der Kinderarmut. Gesellschaftspolitische Rahmenbedingungen und sozialpädagogische Handlungsansätze. Juventa-Verlag: Weinheim. S. 60-75.
MAIS Ministerium für Arbeit, Integration und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen (2011): Sozialberichterstattung Nordrhein-Westfalen. Lebenslagen von Alleinerziehenden. Kurzanalyse 1/2011. Düsseldorf.
Reis, Claus (2011): Produktionsnetzwerke als integriertes Unterstützungsangebot für Alleinerziehende. In: Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit. Heft 2/2011.
Statistisches Bundesamt (2011): Familien nach Familienform. Excel-Tabelle. Bonn.