Öffentliche Verantwortung für Lernen und Entwicklung
Caritas in NRW In der Corona-Pandemie waren zunächst die Alten als besonders gefährdet im Blick. Doch gerade Kinder und Jugendliche leiden unter den Folgen. Vieles, was für ihre Entwicklung notwendig ist, ging nicht mehr. Was steht jetzt an?
Heinz-Josef Kessmann: Bei den Kindern und Jugendlichen kann man sehr deutlich sehen, dass die Zeit in der Pandemie, in der sie nicht mit Gleichaltrigen zusammenkommen konnten, für ihre Entwicklung besonders wichtig gewesen wäre. Wir haben uns daran gewöhnen müssen, dass Kinder in öffentlicher Verantwortung aufwachsen. Gesellschaftliche Institutionen haben einen immer größeren Anteil an der Sozialisation von Kindern, und genau dieser Anteil ist seit zwei Jahren stark eingeschränkt. Familien, die schon traditionell Schwierigkeiten haben, ihre Kinder angemessen zu fördern, sind besonders getroffen, weil Defizite nicht durch Kindergarten oder Grundschule ersetzt werden konnten. Kindern und Jugendlichen fehlt ein ganzes Stück in ihrer Entwicklung. Soziales Lernen findet im Kindergarten, in der Schule, im Offenen Ganztag statt. Die Caritas wird im Landtagswahlkampf dieses Thema an diejenigen richten, die sich um zukünftige politische Verantwortung bewerben. Wir fragen: Was wollt ihr tun, damit Kinder und Jugendliche diesen Entwicklungsrückschritt aufholen?
Caritas in NRW: Was müsste Politik denn antworten?
Heinz-Josef Kessmann: Sie muss erklären, wie Teilhabegerechtigkeit, wie Bildungsgerechtigkeit hinzukriegen sind. Wie werden also diejenigen, die besondere Förderung erfahren müssen, tatsächlich in die Lage versetzt, dass sie gefördert werden? Für die Caritas spielt da der Offene Ganztag eine besondere Rolle. Wie wird der Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz, der uns durch Bundesgesetz kurz vor Ende der Legislatur beschert wurde, in Nordrhein-Westfalen gut umgesetzt? Wir werden caritasintern noch ein paar Fragen klären müssen: Bleibt es beim Ganztagsangebot, das in der Regel morgens die Schule und nachmittags eine freie Gestaltung durch den freien Träger Caritas bietet - oder setzen wir uns ein für Modelle des gebundenen Ganztags, wo Schule und außerschulische Bildungsarbeit sich im Laufe des Tages ergänzen? Das ist konzeptionell sicherlich die weitaus attraktivere Lösung, aber auf Dauer nur mit einer Pflicht zum Ganztag umzusetzen. Die tangiert aber die Rechte der Eltern, die Entwicklung ihres Kindes mitzugestalten. Nachmittags ist eben bei vielen doch noch Familienzeit.
Caritas in NRW: Werden da noch ideologische Schlachten geschlagen?
Heinz-Josef Kessmann: Ich glaube, die Zeit der ideologischen Schlachten ist da wirklich vorbei. Das ist keine spezifisch katholische Frage. Zwar ist das Recht der Familie bei der Erziehung der Kinder immerhin Text des Grundgesetzes und von daher auch Ausgangspunkt aller Überlegungen im Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG). Aber wir alle müssen erkennen, dass in komplexer werdenden Gesellschaften Familien überfordert sind, ihre Kinder auf die Zukunft vorzubereiten, oft - aber nicht ausschließlich - in sogenannten bildungsfernen Schichten. Kinder brauchen Förderung, sie müssen hineinwachsen in gesellschaftliche Strukturen. Soziales Lernen mit Gleichaltrigen war immer wichtig, Bildungsförderung durch strukturierte Erfahrungsräume kann von Familien nicht so vollständig geboten werden. Es ist falsch, anzunehmen, dass soziales Lernen in intakten Familien mit wohlhabendem Hintergrund noch funktioniert und nur in den armen Familien mit Bildungsmängeln nicht. Auch das ist überholt.
Caritas in NRW: Beim Ausbau der OGS muss die Politik einiges klären: Da geht es um Standards, da geht es um Verlässlichkeit, da geht es um räumlichen Ausbau und um den Fachkräftemangel. Mit Blick auf die Förderung von benachteiligten Kindern und Jugendlichen müsste das Land auch bei Schulsozialarbeit, Schulbegleitern, beim großen Thema der Integration mehr anbieten?
Heinz-Josef Kessmann: Das Thema OGS hat eine hohe Bedeutung, weil es für die nächste Legislaturperiode den größten Gestaltungsspielraum bietet. Ein weiteres Thema sind die Sicherung der Entwicklung und die fachliche Weiterentwicklung der Tageseinrichtungen für Kinder, auch da besteht explizit Landesverantwortung. Das dritte ist die Sorge um die Fachkräfteentwicklung in allen Bereichen der Kinder- und Jugendhilfe. Das gilt für Schulsozialarbeit wie für Offenen Ganztag. Wenn wir nur ansatzweise den Aufbau haben werden, der jetzt prognostiziert wird aufgrund des Rechtsanspruchs, werden wir ein erhebliches Fachkräfteproblem bekommen.
Caritas in NRW: Die Problematik der Jugendlichen beim Übergang von der Schule in den Beruf oder in Ausbildung hat der Arbeitslosenreport der Wohlfahrtsverbände untersucht. Festgestellt wurde, dass rund 7000 junge Menschen an dieser Schwelle zum Übergang ins Berufsleben stehen, die unversorgt sind. Die also keinen Ausbildungsplatz, keine Weiterqualifikation, keine Maßnahme, keinen Studienplatz haben, die einfach abtauchen. Auch eine Folge von Corona und eine bedrückende Zahl, die uns herausfordern muss…
Heinz-Josef Kessmann: Angesichts des Fachkräftemangels ist klar, dass wir jeden beschäftigen können, den wir gut ausbilden. Umso ärgerlicher und unverzeihlicher ist es, wenn wir ein solches Potenzial verspielen und Jugendliche die Chance haben wegzutauchen. Es braucht gesamtgesellschaftlich Maßnahmen, aber auch speziell Anstrengungen bei der Caritas, diese Jugendlichen zu finden. Man muss ihnen nachgehen, ihnen helfen, den ersten Schritt zu tun. Ich bin eigentlich ganz zuversichtlich, dass viele mit einer Starthilfe auch ihren Weg gehen werden, weil ich nicht immer nur einen defizitorientierten Blick auf diese Kinder und Jugendlichen werfe. Da haben wir nach Corona eine besondere Aufgabe, zu schauen, dass der Übergang von der Schule in den Beruf gut gelingt.
Caritas in NRW: Ich möchte etwas Grundsätzlicheres ansprechen: Corona überdeckt manches, was strukturell schon seit Langem schiefläuft in diesem Land: das Problem der Kinderarmut. In Nordrhein-Westfalen leben rund drei Millionen Kinder und Jugendliche, davon leben 22,6 Prozent in Armut. Das sind über 660 000 Kinder und Jugendliche, die mit ihren Eltern unterhalb der Armutsschwelle leben. Sie überblicken jetzt mehr als 20 Jahre bei der Caritas und auf das Thema Kinder. Kinderarmut taucht im Landessozialbericht 2007, dann 2011 und jetzt wieder auf. Es wird analysiert in Untersuchungen, publiziert in Pressemitteilungen, beklagt in Sonntagsreden. Jeder Sozialminister stellt sich hin und sagt: Das müssen wir bekämpfen. Und im Endeffekt steigt die Kinderarmut oder bleibt auf hohem Niveau. Was läuft da strukturell schief?
Heinz-Josef Kessmann: Tatsächlich sind Kinder und Jugendliche die am stärksten von Armut betroffene Bevölkerungsgruppe bei uns in Nordrhein-Westfalen. Das ist ein Skandal an sich. Dass der Zustand so lange währt, ist erst recht ein Skandal. Das Problem ist - glaube ich -, dass man sehr stark auf die Familieneinkommen schaut und nicht auf die besondere Situation von Kindern und deren Anspruch auf Förderung und finanzielle Sicherheit. Wenn man das Familieneinkommen als ausreichend betrachtet, weil es irgendwie geht, ist das falsch. Weil wir die großen Zahlen von Arbeitslosigkeit nicht mehr haben - und das ist die höchste Gefährdung von Armut bei Erwachsenen -, sind jetzt auch die Kinder aus dem Blick geraten. Die Caritas hat immer wieder versucht, das als Thema zu benennen. Aber eine eigenständige Kindergrundsicherung, die in diesem Bereich Abhilfe schaffen würde, wird nicht umgesetzt. Sie steht immer mal wieder in politischen Programmen, aber mehr nicht.
Caritas in NRW: Ist das mangelnder Wille, mangelnde Weitsicht, oder hat man sich damit abgefunden?
Heinz-Josef Kessmann: Es wäre bösartig, wenn ich allen politisch Verantwortlichen mangelnde Weitsicht unterstellen würde oder mangelnden Willen. Ich glaube, dass es einen Gewöhnungseffekt gibt. Kinder fallen unter dem Radar durch. Bei sozialpolitischen Maßnahmen besteht eine Konkurrenz um das Geld. Politik sieht zu wenig, welche Chance sich bieten würde, Kinder von vornherein in eine bessere Situation zu bringen, ihr Leben auch langfristig selbst in die Hand zu nehmen, Chancen zu erwerben, um später Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu haben.
Caritas in NRW: Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Markus Lahrmann.
Veranstaltung zur Landtagswahl
Unter dem Titel "Jugend braucht Chancen" veranstaltet die Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege NRW im Vorfeld der Landtagswahl ein Treffen von Landtagsabgeordneten und Kandidat*innen mit jungen Menschen aus Einrichtungen der beruflichen Eingliederung. Die Politiker*innen sollen einen Eindruck von der Lebensrealität der jungen Menschen bekommen. Daran schließt eine Diskussion mit den Jugendlichen, Sozialarbeiter*innen, Fachanleiter*innen sowie Vertreter*innen der Spitzenverbände an über neue Anregungen für einen gelungenen Übergang von der Schule in den Beruf.
Termin: 27. April 2022 von 14 bis 16 Uhr
Ort: Bernhard-März-Haus in Dortmund
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