Jugend im Abseits?
Alexander K. (20) | "Es ist gar nichts mehr so, wie es früher war. Ich hatte einen Ausbildungsplatz als Chemikant, das hat anfangs sehr gut funktioniert. Als die Corona-Auflagen immer strenger wurden, wurde es so stressig und hektisch im Job. Ich habe dann abgebrochen, weil dieser Weg unter Corona-Bedingungen nicht mehr der richtige war."Foto: Andre Zelck
Ein Beitrag von Prof. Dr. Karin Böllert
Seitdem im Januar 2020 der erste Covid-Fall in Deutschland aufgetreten ist, hat sich in rasender Geschwindigkeit das Leben aller Menschen seit nun über zwei Jahren verändert. Das, was sich wie ein roter Faden durch alle unterschiedlichen auf die Pandemie bezogen Aktivitäten zieht - seien es veränderte Praxisansätze der Kinder- und Jugendhilfe, seien es Forschungsarbeiten oder fachpolitische Stellungnahmen -, ist, dass Corona wie unter einem Brennglas mehr als nur deutlich gemacht hat, dass die Herausforderungen der Pandemie zwar alle Menschen betreffen, manche aber eben ganz besonders, d. h., die Betroffenheit von und die Möglichkeiten der Bewältigung der Folgen der Pandemie sind nicht gleich verteilt, sie sind Spiegelbild gesellschaftlicher Ungleichheitsstrukturen. Während im öffentlichen Diskurs lange Zeit die Belastungen gerade der besonders vulnerablen älteren Bevölkerungsgruppen im Fokus standen, spielten die Anliegen der jüngeren Generationen zunächst allenfalls in Form der Aufforderung, sich coronaregelkonform zum Schutz der Älteren zu verhalten, eine Rolle, gerieten junge Menschen dementsprechend allenfalls als Regelbrecher in den Blick. Erst allmählich beginnt sich die Erkenntnis durchzusetzen, dass junge Menschen in der Pandemie einen hohen Preis zahlen und dass dieser Preis eine Bevölkerungsgruppe trifft, die zum einen schon vor Corona am stärksten von Armut betroffen war, dass dies zum anderen aber vor allem eine Bevölkerungsgruppe ist, deren sozialisationsbedingte Herausforderungen darin bestehen, jugendtypische Entwicklungsaufgaben der Lebensphase Jugend - Qualifizierung, Verselbstständigung und Selbstpositionierung - unter deutlich erschwerten Bedingungen bewältigen zu müssen.
Junge Menschen in der Pandemie
Vor allem der Forschungsverbund "Kindheit - Jugend - Familie in der Corona-Zeit" hat einen Einblick in die Lebenswelten und den veränderten Alltag von jungen Menschen vermittelt.1 Junge Menschen haben demnach zu fast 65 % den Eindruck, in der Pandemie weder mit ihren jugendspezifischen Folgen noch mit dem, was junge Menschen in der Pandemie geleistet haben - sei es im Homeschooling, sei es durch den Verzicht auf soziale Kontakte in der Sorge um die Älteren -, wahrgenommen worden zu sein.2 68 % der Jugendlichen haben Zukunftsängste, 60 % fühlen sich einsam. Ein Drittel der Jugendlichen hat größere finanzielle Sorgen. In dem Zitat aus der jüngsten sogenannten JuCo-Studie III - "Ich verstehe die Corona-Maßnahmen, jedoch verpassen wir viel von unserem Leben. Ich wurde in meiner Ausbildungszeit fristlos gekündigt, jedoch durfte ich meine Ausbildung ohne Betrieb beenden. Ich konnte geplante Reisen nicht machen, keine Veranstaltungen besuchen, keine Geburtstage feiern und mich nicht mit Familie und Freunden treffen. Dies macht mir persönlich zu schaffen, da ich ein sehr sozialer Mensch bin und finde, dass ich vieles verpasst habe, was ich nicht nachholen kann. Da kein Ende in Sicht ist, ist es teilweise schwierig, mit der Situation umzugehen und immer verständnisvoll zu sein. Ich hoffe, dass sich die Situation bald verbessert" (Befragte*r JuCo III) - kommt sehr zutreffend zum Ausdruck, wie eine Mehrzahl der jungen Menschen ihre Situation in der Pandemie beschreibt.
Grafik: LAG Freie Wohlfahrtspflege NRW
Das Lebensgefühl der jüngeren Generationen in der Pandemie drückt sich vor allem darin aus, dass immer wieder Pläne verschoben oder aufgehoben werden mussten. Dabei reicht die Bandbreite dessen, was junge Menschen an Plänen verschieben oder verwerfen mussten, von qualifikationsbezogenen Aspekten, wie dem Aufschub eines Abschlusses oder der Veränderung des Schul- und Hochschulbetriebs, über die Veränderung von Berufsvorstellungen, den Ausfall oder Aufschub von Auslandsaufenthalten und Plänen hinsichtlich der (institutionalisierten) Freizeit bis hin zum Ausfall von Abschlussfeiern und Geburtstagen oder zur Veränderung sozialer Beziehungen.3 Insgesamt sind vor allem die familialen Ressourcen entscheidend für den Umgang mit der Pandemie und ihren Folgen.
Nach einer langen Phase der Belastung zu Beginn der Pandemie haben sich die Lebensqualität und das psychische Wohlbefinden der Kinder und Jugendlichen im Herbst 2021 leicht verbessert - so die zusammenfassende Lagebeschreibung der aktuellen COPSY-Studie, die ebenfalls zum dritten Mal in Folge ihre Befragungsdaten präsentiert, deren Ergebnisse im März (nach Redaktionsschluss / Anmerk. d. Redaktion) veröffentlicht werden sollen. Insbesondere das Ende der strikten Kontaktbeschränkungen, die Öffnung der Schulen sowie der Sport- und Freizeitangebote haben zum psychischen Wohlbefinden und zur Steigerung der Lebensqualität der jungen Generation beigetragen. Aber auch eineinhalb Jahre nach Pandemiebeginn fühlen sich mehr als ein Drittel der Kinder und Jugendlichen in ihrer Lebensqualität eingeschränkt. Schon die zweite COPSY-Studie war dabei zu dem Ergebnis gekommen, dass diejenigen Kinder und Jugendlichen, die vor der Pandemie gut dastanden, Strukturen erlernt haben und sich in ihrer Familie wohl und gut aufgehoben fühlten, auch gut durch die Pandemie kommen. Besondere Konzepte werden demnach für diejenigen jungen Menschen benötigt, die aus Risikofamilien stammen.4
Inessa U. (17), macht gerade eine Ausbildung | "Ich bin die einzige Geimpfte aus unserer Familie, damit sind meine Eltern nicht klargekommen. Meine Eltern sind Impfgegner. Ich habe mich impfen lassen, weil ich in der Ausbildung zur Kinderpflegerin bin und keine Lust mehr hatte auf die ständigen Testungen. Corona hat mir auch ein paar Freunde genommen, weil der Kontakt nicht mehr da war."Foto: Andre Zelck
Zwischenfazit
- Die Pandemie hat nach mehr als zwei Jahren erhebliche Auswirkungen für junge Menschen und ihre Familien. Private Ressourcen und Ermöglichungsbedingungen sind entscheidend. Kinder und Jugendliche waren und sind sehr stark auf den familialen Nahraum und ihre Eltern(teile) verwiesen. Das hat nachhaltige Auswirkungen auf ihre sozialen Teilhabechancen und ihre Gesundheit.
- Anders als noch zu Beginn der Pandemie kann nicht mehr davon ausgegangen werden, dass die Folgen nur vorübergehender Natur sind oder nur ganz bestimmte Gruppen betreffen. Die Folgen der (sozialen) Kontakteinschränkungen beeinflussen das ganze Leben und mittlerweile auch die Zukunftschancen der jungen Generationen. Übergänge vor allem in den Ausbildungsbereich oder das Hochschulstudium sind unklar, es kommt zu einer schleichenden Entkopplung von Statusübergängen.
- Die Pathologisierung als "Corona-Generation" droht, wenn der Blick einseitig auf gesundheitliche Folgen der Pandemie gelenkt wird. Im Fokus der öffentlichen Debatte stehen vorrangig "Diagnosen" von Lerndefiziten; Jung sein ist aber viel mehr als Schule! Verkürzte Sichtweisen auf den Alltag der jungen Generation de-thematisieren alles das, was junge Menschen in der Pandemie geleistet haben, und blenden wesentliche Aspekte ihrer Lebenssituationen aus! "Generation Corona?", "The Lost Generation?", "eine ausgebremste Generation" (Sickert 2021) - all dies sind mediale wie wissenschaftliche Zuschreibungen.5 Zu Recht wehrt sich die junge Generation entschieden, als sogenannte "Corona-Generation" etikettiert und stigmatisiert zu werden.6
Jugendpolitische Herausforderungen
Das Bundesjugendkuratorium hat 2021 eine nachhaltige inklusive kinder- und jugendgerechte Krisenpolitik auf Basis der Schutz-, Förder- und Beteiligungsrechte junger Menschen gefordert. Betont wird, sozial- und bildungspolitische Regulationen vorzunehmen, die systematisch und breit mit jungen Menschen aus unterschiedlichen sozialen Lebenslagen und -konstellationen gemeinsam ausgestaltet werden. Dafür sind auch die soziale, emotionale und mentale Gesundheit junger Menschen in den Blick zu nehmen. Um Bildungs- und Chancengerechtigkeit zu ermöglichen sowie Beteiligungsrechte zu verankern, müssen krisenfeste Bedingungen und diskriminierungsfreie Zugänge zu Infrastrukturen entwickelt werden, die sich an den konkreten Bedarfen junger Menschen orientieren und besonders junge Menschen in prekären Lebenslagen erreichen.7
Grafik: LAG Freie Wohlfahrtspflege NRW
Das Bundesjugendkuratorium hat 2021 eine nachhaltige inklusive kinder- und jugendgerechte Krisenpolitik auf Basis der Schutz-, Förder- und Beteiligungsrechte junger Menschen gefordert. Betont wird, sozial- und bildungspolitische Regulationen vorzunehmen, die systematisch und breit mit jungen Menschen aus unterschiedlichen sozialen Lebenslagen und -konstellationen gemeinsam ausgestaltet werden. Dafür sind auch die soziale, emotionale und mentale Gesundheit junger Menschen in den Blick zu nehmen. Um Bildungs- und Chancengerechtigkeit zu ermöglichen sowie Beteiligungsrechte zu verankern, müssen krisenfeste Bedingungen und diskriminierungsfreie Zugänge zu Infrastrukturen entwickelt werden, die sich an den konkreten Bedarfen junger Menschen orientieren und besonders junge Menschen in prekären Lebenslagen erreichen.
Auch wenn in den vergangenen zwei Jahren viel geschafft worden ist und der Übergang von der Pandemie in eine endemische Lage von allen erhofft wird, gilt es, aus den zurückliegenden Monaten Handlungsbedarfe für eine Jugendpolitik mit und nach der Pandemie zu ziehen, die hier nur in Auszügen skizzenhaft angeführt werden können:
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Armut junger Menschen bekämpfen: Die im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung eingeforderte Kindergrundsicherung muss einen wirksamen Beitrag zur Bekämpfung sozialer Ungleichheiten leisten, damit alle jungen Menschen die gleichen Chancen haben, die Entwicklungsaufgaben der Lebensphase Jugend erfolgreich zu bewältigen.David H. (18) | "Ich gehe noch ein Jahr zur Schule, danach würde ich gerne arbeiten. Ich hatte mich bei mehreren Stellen für ein Praktikum beworben, aber wegen Corona sehr viele Absagen bekommen. Irgendwann hat es dann doch in einem Hotel geklappt. Corona hat mich sehr heruntergezogen, es bedeutete viele Verbote, zum Beispiel sich mit Freunden zu treffen. Wenn mein Vater mich hier (im Kinder- und Jugenddorf) besucht hat, durfte er nicht ins Haus und nicht in mein Zimmer. Das hat mich sehr traurig gemacht."Foto: Andre Zelck
- Soziale Infrastruktur sichern und ausbauen: Der Bedeutungszuwachs regionaler Disparitäten kommt darin zum Ausdruck, dass die lokale Infrastruktur und ihre niedrigschwellige Erreichbarkeit den Unterschied im Umgang mit der Pandemie ausmachen. Die offene Kinder- und Jugendarbeit und mit ihr die Jugendverbandsarbeit sind für junge Menschen Teil der kritischen Infrastruktur, die Selbstpositionierungen, ehrenamtliches Engagement und informelles Lernen ermöglicht.
- Jugendpolitik ist ein Beitrag für mehr Generationengerechtigkeit: Beteiligung als Selbstorganisation und Selbstbestimmung junger Menschen - inklusiv, divers, analog und digital, lokal und überregional sowie ressortübergreifend - setzt voraus, dass die älteren Generationen bereit sind, Verantwortung und Einfluss zugunsten junger Menschen abzugeben, und dass Jugendpolitik strukturell verankert wird.
- Jugendpolitik steht für Vielfalt und ist international: Jugendpolitik als Teil der politischen Bildung bezieht eine klare Haltung gegen Hass, Antisemitismus und Rassismus. Sie tritt für ein offenes und solidarisches Europa ein.
- Jugendpolitik und Klimapolitik gehen Hand in Hand: Eine eigenständige Jugendpolitik zielt darauf ab, sowohl das Leben der Jugendlichen im Hier und Jetzt zu verbessern als auch Perspektiven für eine lebenswerte Gesellschaft und Zukunft zu eröffnen. Am 29.04.2021 hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) einen neuen Maßstab für Klima- und Grundrechtsschutz gesetzt. Das BVerfG stellte fest, dass die heutige Klimaschutzpolitik Freiheits- und Grundrechte von morgen beeinträchtigt. Der Gesetzgeber ist aufgefordert, bis Ende 2022 einen schlüssigen Emissionsreduktionspfad mit dem Ziel der Treibhausgasneutralität vorzulegen. Dabei müssten die Freiheits- und Grundrechte der jungen und künftigen Generationen gewahrt und das CO²-Budget entsprechend generationengerecht aufgeteilt werden.
Die fotografierten Jugendlichen und jungen Erwachsenen leben im Kinder- und Jugenddorf Delbrück (KJDD). Ihre vollständigen Namen sind der Redaktion bekannt.
1 Der Forschungsverbund "Kindheit - Jugend - Familie in der Corona-Zeit" setzt sich zusammen aus
dem Institut für Sozial- und Organisationspädagogik an der Stiftung Universität Hildesheim und
dem Institut für Sozialpädagogik und Erwachsenenbildung an der Universität Frankfurt in
Kooperation mit der Universität Bielefeld. Entstanden sind darin bisher die bundesweite Studie
JuCo (zweimalige Befragung) sowie die bundesweite Studie KiCo zu den Erfahrungen und
Perspektiven von Eltern und ihren Kindern während der Corona-Maßnahmen.
2 https://hildok.bsz-bw.de/frontdoor/index/index/docId/1078
https://hildok.bsz-bw.de/frontdoor/index/index/docId/1166
www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/Projekte/Familie_und_Bildung
/IN_WB_Fragt_uns_2.0_Corona-Edition_2021.pdf
3 Anna Lips (2022): "Alles muss neu gedacht und geplant werden" - Verworfene und verschobene
Pläne junger Menschen in der Corona-Pandemie. In: neue praxis, Heft 1, i. E.
4 www.uke.de/allgemein/presse/pressemitteilungen/detailseite_104081.html
5 Dohmen, D./Hurrelmann, K. (Hg.), 2021: Generation Corona? Wie Jugendliche durch die Pandemie
benachteiligt werden.
Weinheim/Basel; Friedrich-Ebert-Stiftung, 2021: Jugend und Corona - The lost generation?
online unter: www.jugendhilfeportal.de/politik/bildungspolitik/artikel/jugend-und-corona-the-lost-
generation
Sickert, T., 2021: Jugendliche in der Coronakrise. Eine ausgebremste Generation
online unter: www.deutschlandfunkkultur.de/jugendliche-in-der-coronakrise-eine-ausgebremste-
generation-100.html
6 Böllert, Karin (2021): Was Kinder und Jugendliche während und nach Corona brauchen.
In: neue caritas, Heft 17, 122 Jg., 9-12 S.
7 https://bundesjugendkuratorium.de/presse/kindheit-und-jugend-in-zeiten-von-corona.html
Weitere Beiträge zum Thema "Kinder und Jugendliche" finden Sie hier in unserem Themendossier.