Deutschland wird sich verändern
Irakische Flüchtlingsfamilie im Garten eines Übergangswohnheims der Caritas in Essen.Achim Pohl
Das Jahr 2015 war geprägt von ungeheurer Hilfsbereitschaft und Idealismus in der Zivilgesellschaft, aber auch von großer Ratlosigkeit auf Seiten der Politik. Ende 2015 zeichneten sich jedoch Grundlinien ab: Alles muss getan werden, damit niemals deutsche Grenzpolizisten auf Flüchtlinge schießen. Und: Ein dauerhaft unkontrollierter Zuzug in der bisherigen Größenordnung muss verhindert werden. Das inzwischen schärfste deutsche Asylrecht seit 23 Jahren ändert aber zunächst nichts an der Wirklichkeit, weder an der Zahl der Flüchtlinge noch an der Überfüllung von Turnhallen.
Das Grundrecht auf Asyl kennt keine Obergrenze. Asyl ist ein Menschenrecht. Natürlich gibt es eine Obergrenze dessen, wie viele Flüchtlinge ein Land in kurzer Zeit aufnehmen kann. Jedenfalls dann, wenn jeder Neuankömmling einen Platz zum Schlafen, die Aussicht auf einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz haben soll, wenn die Entstehung von "Gettos" und Parallelgesellschaften verhindert werden soll. Das alles wird viel Geld, Kraft und Zeit kosten. Noch ist es nicht so weit, aber Deutschland operiert am Rande der Überforderung. Es sind Anstrengungen von allen gefordert.
Vordringlich bestehen drei zentrale Aufgaben
1. Kontrolle, Verlangsamung und Begrenzung der Einwanderung von sehr vielen Flüchtlingen
Deutschland versucht, durch diplomatische Bemühungen innerhalb der europäischen Union, in der Türkei und in anderen Ländern Voraussetzungen für gemeinsame Anstrengungen zu Kontrolle, Verlangsamung und Begrenzung zu schaffen. Dazu gehört wesentlich auch die Bekämpfung der Fluchtursachen. Auch die Kirchen und ihre Hilfswerke wie Caritas international unterstützen zusammen mit dem UNHCR Flüchtlinge in den Krisen- und Nachbarländern, z. B. im Libanon, in Jordanien und im Nordirak. Das gilt es auszuweiten.
Innerhalb Deutschlands geht es um eine Beschleunigung der Asylverfahren, eine Reduzierung der Zahlen durch mehr Rückführungen und Abschiebungen und um eine Verringerung der Anreize, nach Deutschland zu kommen.
Zentral bleiben für die Caritas:
- die Orientierung am Schutzbedarf und an humanitären Aspekten bei der Aufnahme von Flüchtlingen
- die Verwirklichung des Grundsatzes "Menschenschutz vor Grenzschutz"
- die Garantie des Asylrechts durch individuelles Verfahren
- der Blick auf die Ursachen wie Kriege und Bürgerkriege, massive Verletzung von Menschenrechten und Verfolgung, wie Armut und Perspektivlosigkeit, und ihre Bekämpfung
Javad und Aida mit Shahab aus AfghanistanAchim Pohl
2. Integration (während und nach Beendigung des Asylverfahrens) der Flüchtlinge
Diejenigen, die bleiben dürfen, müssen zügig durch dezentrale Unterbringungen, Angebote in Integrationskursen und Erteilung von Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigungen integriert werden.
Die Caritas leistet nicht nur einen Beitrag zur Gestaltung der Gesellschaft, damit mittel- und langfristig allen eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglicht, Armut verringert und ein Leben in Vielfalt aufgebaut werden kann. Sie prüft und reflektiert auch selbst im Rahmen einer interkulturellen Öffnung der Dienste und Einrichtungen Angebote und entwickelt sie weiter, damit sie allen Menschen nachhaltige Unterstützung bieten.
3. Abbau von Angst vor Fremden/Flüchtlingen und der Angst vor einem sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Abstieg
Die Entwicklung im Jahr 2015 macht vielen Menschen Angst und überfordert sie. Die Reaktionen der Zivilgesellschaft auf Schutzsuchende sind gespalten. Bei einigen zeigen sich Diskriminierung und Rassismus, Menschen agieren mit Hass und sogar Gewalt. Die Caritas ignoriert die Angst vor dem Verlust der eigenen Identität nicht. Caritas muss zwischen Personen und Gruppen vermitteln und dabei Ängste wahrnehmen und aufgreifen. Sie organisiert Austauschmöglichkeiten in sozialen Netzwerken, aber auch an realen Orten der Begegnung.
Mittel- und langfristig muss sichergestellt werden, dass - trotz hoher Aufnahme- und Anerkennungszahlen von Flüchtlingen - die notwendigen gesellschaftlichen Integrations- und Inklusionsleistungen angeboten werden. Dabei dürfen die Leistungen für die einheimische Bevölkerung nicht beschnitten werden. Es geht um den Anspruch, soziale Gerechtigkeit und Teilhabe für alle in Deutschland lebenden Menschen zu verwirklichen.
Ehrenamt
Engagierte Ehrenamtliche sind eine wertvolle Hilfe, können aber das Hauptamt nicht ersetzen. Einsatzfelder von Ehrenamtlichen müssen gut aufeinander abgestimmt werden, mögliche neue Handlungsfelder wie z. B. Gesundheit, Bildung und Arbeit neu entwickelt werden. Zuständigkeiten und Strukturen müssen geklärt und Begleitangebote müssen installiert werden,
Kennengelernt haben sie sich auf der Entbindungsstation im Krankenhaus, das war erst vor wenigen Tagen. Jetzt sind sie beide Mütter – Sulmaz, die Flüchtlingsfrau aus Afghanistan, und ihre neue Nachbarin aus dem Ruhrgebiet in Deutschland. Sie bringt Sulmaz Babykleidung, damit ihr der Start in Deutschland besser gelingt und damit der kleine Amir nicht friert, wenn der Winter kommt. Herzlich willkommen!Achim Pohl
Arbeit
Auch hier ist mehr Realitätssinn wichtig: Flüchtlinge werden aufgrund humanitärer Verpflichtungen aufgenommen. Sie kommen nicht, weil sie Fachkräfte sind, weil ihnen ein Arbeitsplatz angeboten wird. Flüchtlinge sind zunächst eine Bürde für den Sozialstaat. Flüchtlinge verfügen mehrheitlich über Qualifikationen. Um sie wie auch die Gesellschaft insgesamt zu unterstützen, müssen zielgenaue Qualifizierungs- und Arbeitsangebote erfolgen. Die jetzt kommen, sind die Fachkräfte von übermorgen.
Umgang mit Regeln / Vermittlung von Regeln
Wir müssen von Anfang an zumuten und einüben, dass Einheimische und Flüchtlinge miteinander klarkommen. Das Ausmaß an Fehlinformation und Nichtinformation unter Flüchtlingen über gesellschaftliche Werte und Umgangsregeln und -formen in Deutschland bedarf einer entsprechenden Aktivität.
Es geht um viele Menschen aus unterschiedlichen Kulturen und religiösen Strömungen, die oft andere Werte haben, z. B. was die Rollen von Frauen und Mädchen angeht oder sexuelle Identitäten. Ein Teil bringt Antisemitismus mit, auch wenn sie keine fundamentalen Muslime sind. Viele haben gewalttätige Auseinandersetzungen erlebt, viele haben keine Erfahrung mit einer Zivilgesellschaft westlicher Prägung. Aber sie sind auch alt, jung, Mann, Frau, Behinderte, Vater, alleinerziehende Mutter, reich, arm; sie haben unterschiedliche Weltanschauungen und Lebensstile.
Aber gilt nicht auch für Deutschland, dass unsere Kultur heterogen und ständiger Veränderung unterworfen ist? Die Werte des Grundgesetzes sind keine spezifisch deutschen Werte, sie gelten weit über "das Deutsche" hinaus. Dazu kommt, dass diese Werte des Grundgesetzes nicht einmal von allen einheimischen Deutschen geteilt werden. Wir brauchen etwas in die Zukunft Gerichtetes: Wie wäre es mit einem Leitbild "Pluralität, Solidarität und Gleichwertigkeit"?
Wir brauchen einen langen Atem, es bedarf vieler Anstrengungen. Wir werden insbesondere in der Sozialarbeit, den Kitas und Schulen, in berufsvorbereitenden Maßnahmen und ähnlichen Bereichen mehr qualifiziertes Personal benötigen. Wir stellen uns auf eine Gratwanderung zwischen Fachlichkeit und Pragmatismus ein.
Forderungen an die Politik
- Politiker brauchen einen Blick aufs Ganze. Jede Entscheidung hat sofort Auswirkungen an anderer Stelle. Politiker sind gefragt, die das erkennen, die politische Entscheidungen treffen und dabei wirtschaftliche Weichen stellen oder ökonomische Grundlagen bereitstellen.
- Die Flüchtlinge werden Wohnungen brauchen - richtige Wohnungen, mindestens 350000. Um den Wohnungsbedarf einigermaßen zu decken, müssten ab sofort jährlich 100000 Wohnungen mehr gebaut werden. Falsch wäre es, spezielle Flüchtlingswohnungen zu bauen.
- Schulen müssen durch ausreichende Finanzierung und gut ausgebildetes Personal in die Lage versetzt werden, jeden Schüler unabhängig von ausländerrechtlichem Status, ethnischer Herkunft, sozialem Status und finanzieller Ausstattung des Elternhauses zu fördern, um einen möglichst hohen Bildungsabschluss zu erwerben.
- Nötig ist ein Integrationsplan in deutschem - besser in europäischem - Maßstab.