Bis die Fassade bröckelt
Bedächtig nähert sich eine Sozialarbeiterin des Sozialdienstes katholischer Frauen (SkF) Münster dem reichlich mit Graffiti besprühten und zugewucherten Gebäude. Jasmin Künnen ruft laut ihren Namen und "Aufsuchende Straßensozialarbeit" und beugt sich vorsichtig in das dunkle Fensterloch. Es bleibt still, auch beim Gang zu einem weiteren Schlafplatz in einem Verschlag trifft sie niemanden. Sommer, Sonnenschein - offensichtlich sind alle Obdachlosen unterwegs, die hier in der Industriebrache zwischen den Gleisen des Hauptbahnhofs und dem Dortmund-Ems-Kanal Unterschlupf finden.
Nur Müll liegt verstreut im ersten Raum. Wie es dahinter aussieht, wo die Matratze ihrer Klientin liegt, weiß Künnen nicht. Zu gefährlich hineinzusteigen. "Da habe ich keine Fluchtmöglichkeit", sagt die 26-jährige Sozialarbeiterin. Sie weiß, dass sie nicht willkommen ist, vor allem nicht, wenn der zur Gewalt neigende Partner dabei ist.
Seit einem Dreivierteljahr versucht sie, der schwer drogensüchtigen Frau Hilfe anzubieten. Noch hält die Frau den Schein ihres "normalen" Lebens aufrecht, das sie früher gehabt haben muss. Sie beziehe Erwerbsunfähigkeitsrente, müsse also gearbeitet haben, folgert Künnens Kollegin Marita Lehmkuhl (61). Mehrfach sei die 35-Jährige schwanger gewesen, habe alle Kinder aber abgeben müssen. Viel mehr haben die beiden Sozialarbeiterinnen noch nicht in Erfahrung bringen können. Marita Lehmkuhl beobachtet, dass angesichts der kümmerlichen hygienischen Möglichkeiten "ihre Fassade bröckelt". Die Erfahrung zeige, dass die Frauen in der Regel zwei Jahre lang den Schein eines normalen Lebens aufrechterhalten könnten.
Wenn sich Jasmin Künnen auf ihr Fahrrad schwingt und die einschlägigen Orte in Münster aufsucht, an denen sich wohnungslose Frauen aufhalten, ist das im Sinne des Wortes "Aufsuchende Straßensozialarbeit" oder kurz ASA. 1997 gestartet als Landesmodellprojekt, wird der Dienst heute von der Stadt teilfinanziert. Er ist ein Baustein im Reigen der Hilfen, mit denen der SkF die derzeit 118 bekannten wohnungslosen Frauen in der Stadt erreichen will.
20 Prozent der Wohnungslosen sind Frauen
Ein- bis zweimal in der Woche oder auf Zuruf macht sich Jasmin Künnen auf den Weg, in der Regel immer zusammen mit ihrer Kollegin. Was sie auf der Tour erwartet, ist unbestimmt. An diesem Morgen sind alle Plätze verwaist, auch die mit einigen Zweigen abgetrennten Übernachtungsstellen unter freiem Himmel am Kanal. Wenn sie nicht unterwegs sind, kümmern sich Jasmin Künnen und Marita Lehmkuhl um die Frauen in der Notschlafstelle im Gertrudenhaus oder im Frauentreff. Sie regeln Formalien mit den Ämtern, begleiten sie zu Ärzten oder suchen nach Wohnungen.
Wohnungslosigkeit bedeutet nicht unbedingt, dass die Betroffenen tatsächlich kein Obdach haben. Keine eigene Wohnung oder der bevorstehende Verlust der Wohnung fällt auch unter diesen Begriff. Tatsächlich, so erklärt Ingrid Hövelmann, SkF-Mitarbeiterin im Gertrudenhaus, sind insbesondere Frauen "wenig auf Platte unterwegs". Ohnehin beträgt ihr Anteil an den Wohnungslosen nur 20 Prozent.
Mehr sind verdeckt wohnungslos. "Die kommen noch irgendwo unter", sagt Jasmin Künnen. Standardantwort einer Frau auf die Frage: "Wo wohnst du?" sei: "Das ergibt sich noch gleich." Sie gehen Zweckpartnerschaften ein und nehmen dafür auch Gewalt in Kauf, müssen dafür häufig "bezahlen".
Trennung, Arbeitslosigkeit, Sucht, Schulden
In der Vielfalt der Gründe, die bei ihnen zur Wohnungslosigkeit führen, stehen die Frauen den Männern in nichts nach: Trennung, Arbeitslosigkeit, Sucht, Schulden … Und meist ist es ein ganzes Knäuel. Irgendwo hat es einen Anfang und führt immer tiefer bis zum Verlust der Wohnung. Psychische Erkrankungen spielen zunehmend eine Rolle, und Künnen beobachtet eine Zunahme der Extremfälle. Gerade denen fehle oft die Einsicht. Was die Voraussetzung dafür wäre, Hilfe anzunehmen.
Abgewiesen wird niemand
Die Sozialarbeiterinnen im Gertrudenhaus brauchen viel Geduld, um manchmal erst nach Jahren Erfolge zu sehen. Aber die gibt es. Lehmkuhl freut sich über eine Klientin, die ins Langzeitwohnen gewechselt ist. Immer wieder sprechen die beiden SkF-Mitarbeiterinnen die Frauen auf der Straße oder an ihren Schlafplätzen an. Sie kennen sie alle, und alle kennen sie und wissen, dass sie Hilfe bekommen könnten. Jasmin Künnen hat immer ihre dunkelrote Umhängetasche dabei und prüft vor der Abfahrt den Inhalt: etwas Verbandszeug, Creme, Kulis, aber auch Shampoo und Süßigkeiten, sogar Hundekekse, dazu ein Faltblatt zu den Hilfen des SkF.
Die Übernachtungsstelle ist 24 Stunden geöffnet, und die Frauen können sich auch tagsüber dort aufhalten. Abgewiesen wird niemand, außer bei Gewalt. Sieben Betten gibt es, aber immer wieder müssen Matratzen dazugelegt werden.
Trotzdem ist es häufig schwierig, an die Frauen heranzukommen. Wie an die 35-Jährige, an der Jasmin Künnen hartnäckig dranbleibt. Natürlich sind Marita Lehmkuhl und sie besorgt wegen der Drogenabhängigkeit. "Wir können dokumentieren, Alarm schlagen", sagt Ingrid Hövelmann. Auch das Gesundheitsamt oder eine Drogenhilfeeinrichtung informieren oder andere drogenabhängige Frauen ansprechen, ihr zu helfen. Letztendlich muss die Frau aber selbst bereit sein, Hilfe anzunehmen. Oder es geschieht, dass die Frau eines Tages mit einer Überdosis tot aufgefunden werden könnte.