Helfen heißt Leben ermöglichen
Diese Fragen drängten sich mir immer wieder auf, die folgenden persönlichen Reflexionen entstammen nicht zuletzt dem Nachdenken über meine 18-jährige Tätigkeit in der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des Deutschen Caritasverbandes und meine weiteren sechs Jahre als Pressesprecher der Diözese Rottenburg-Stuttgart, deren Flüchtlingsbeauftragter ich jetzt als Rentner bin.
Mein Vor-Vorgänger beim Deutschen Caritasverband, der Schweizer Salettinerpater Ernst Schnydrig (1912-1976), war ein gegen jeden Mainstream gestrickter Mann, eigenwillig und eigenständig. Wenn er, auch ein genialer Schriftsteller und insgesamt ungeheuer kreativ, einmal wieder an einem neuen Buch schrieb, tauchte er einfach für einige Wochen nicht mehr im Büro auf und durfte auch nicht zu Hause gestört werden. Dann kamen originelle Werke an die Öffentlichkeit wie zum Beispiel das Buch "Ein Marimbaphon müsste man haben" (1967), in dem er sich als "von Beruf Bettelpfarrer" vorstellt. Auch ein anderes Buch hat er geschrieben: "Ein Mann ging von Jerusalem hinab nach Jericho" (1962). Darin wird deutlich, was er unter Caritas verstand und was seine eigene existenzielle Mission war: sich unmittelbar anrühren lassen vom Leid eines anderen Menschen und ihm, dem zunächst Fremden, zum Nächsten werden. So hat er gehandelt.
Strukturen sollen dienen
1952 - um das Weihnachtsfest - hat ihn beim Gang durch Bethlehem das Elend der palästinensischen Bevölkerung und vor allem der Kinder so erschüttert, dass er unverzüglich daran ging, ein kleines Kinderkrankenhaus aufzubauen. Aus den bescheidenen Anfängen ist heute eine moderne pädiatrische Fachklinik geworden - die einzige in den Palästinensergebieten. Und aus den Fundraisingaktivitäten des "Bettelpfarrers" ist in Deutschland und der Schweiz die Kinderhilfe Bethlehem geworden, ein Werk der Hoffnung für die geschundenen Menschen im Heiligen Land. Würde sich P. Ernst Schnydrig heute als junger Mann - ohne diese Vorgeschichte, für die ihn postum Ungezählte verehren - beim Caritasverband bewerben, hätte er dann eine Chance, eingestellt zu werden?
Ist Helfen paternalistisch?
Warum erzähle ich das? Weil ich es bei allen strukturellen und politischen Diskussionen, die sicher auch notwendig sind, für unerlässlich halte, gelegentlich innezuhalten und sich auf das Ur-Datum karitativen Handelns zu besinnen: sich in einer unmittelbaren Mensch-Mitmensch-Beziehung von der Not des anderen Menschen anrühren lassen und ihm, dem Fremden, zum Nächsten werden. Damit dies dauerhaft und mit Nachhaltigkeit gelingt, braucht es sicher stabilisierende Strukturen, politische Strategien im Großen und im Kleinen. Aber diese stehen nicht an erster Stelle; sie haben eine dienende, unterstützende, subsidiäre Funktion und keine normativ-reglementierende.
Ich verfolge akuell die verbandsinterne Diskussion um den seit dem Jubiläumsjahr 1997 geltenden Claim: "Not sehen und handeln. Caritas". Er vermittle ein Helferimage, so höre ich, dem man stärker die Profilierung als politischer Akteur gegenüberstellen wolle? Ich halte das für eine Scheindiskussion, auch wenn sie symptomatisch sein mag. Für wen ist denn die politische Aktion da, und wozu ist sie gut? Um wen geht es denn, wenn nicht letztlich immer um den unverwechselbar einmaligen Menschen? Es heißt im Übrigen nicht: "Not sehen und helfen", sondern "Not sehen und handeln". Und "Handeln" ist ein weiter Begriff, der die unmittelbare Hilfe ebenso einschließt wie die Entwicklung politisch-anwaltschaftlicher Strategien. Aber zuerst und zuletzt geht es immer um den jeweils einzelnen Menschen in seiner Unterstützungsbedürftigkeit.
Befreien wir den Begriff des "Helfens" von seinem angeblichen Makel. Er sei "paternalistisch", heißt es, und ein solches Etikett lässt keinen Widerspruch zu. In dem autobiografischen Band von Ruth Pfau mit dem Titel "Leben ist anders", einem wunderbar spirituellen Buch, lese ich hingegen: "Nach ‚lieben‘ sei ‚helfen‘ das zweitschönste Wort unserer Sprache, hat jemand einmal gesagt." Und sie fügt hinzu: "Helfen heißt: Leben ermöglichen."1 Mit Blick auf ihre Aufgaben in Pakistan führt sie dazu aus: "Was können wir tun? Letztlich nichts anderes, als bei diesen Menschen zu bleiben. Und darauf hinzuwirken, dass dieses Leid verhindert wird, und die Ursachen angehen."2 Diese wenigen Worte eröffnen die ganze Spannweite dessen, worum es geht: Leben ermöglichen. Begriffe tun dabei wenig zur Sache, wohl aber die Grundmotivation: "Jedes Leid geht uns an."3 Gegen ein rein effizienzorientiertes Missverständnis betont Ruth Pfau allerdings auch: "Helfen heißt […] auch: Da sein für andere, auch wenn es keine konkreten Lösungen gibt."4
Plädoyer für die Wiederentdeckung der Brüderlichkeit
Nun kann man die humanitären Herausforderungen in einem Land der Südhemisphäre nicht lückenlos mit sozialstaatlichen Rahmenbedingungen, Prozessen und Diskussionen in Deutschland oder Europa vergleichen. Der deutsche Sozialstaat, zu dem auch Caritasverbände und die Freie Wohlfahrtspflege insgesamt als integraler Bestandteil gehören, ist heute ein komplexes "System von Finanzierung, Verwaltung und Vermittlung von Sozialleistungen"5. Aber er ist nach den Worten eines ausgewiesenen Experten für Fragen von Sozialstaatlichkeit und Sozialpolitik, Franz-Xaver Kaufmann, in seinem Ursprung "ein moralisches Projekt, entstanden aus der moralischen Empörung über das Elend der frühen Industrialisierung und der Absicht, ein besseres Zusammenleben innerhalb eines Gemeinwesens herzustellen".6 Das entwickelt eine strukturelle Eigendynamik, in der politische Interessen ebenso wie Fragen wie Professionalität und wohl auch Macht eine Rolle spielen und die im politischen Kräftespiel austariert werden muss. Aber letztlich, so Kaufmann, sei der Sozialstaat ein "Anerkennungszusammenhang", dessen "normativer Sinn […] sich auf die Anerkennung einer politischen Verantwortung für das Wohlergehen jedes Einzelnen innerhalb eines Gemeinwesens" bezieht.7 Die Wurzeln dieser Sicht auf die Person in ihrer individuellen Einmaligkeit identifiziert Kaufmann - unbeschadet der Komplexität dieser Fragestellung - im durch die europäische Aufklärung modifizierten und verstärkten Erbe des Christentums: "Wir dürfen uns wundern, dass außerhalb des Einflussbereichs von Christentum und Aufklärung sich die Überzeugung vom Anspruch eines jeden Menschen auf ein Leben in Würde bisher nicht durchgesetzt hat."8 Es ist übrigens derselbe Franz-Xaver Kaufmann, der gegen einen zur Nivellierung heruntergekommenen Gleichheitsgedanken und ein individualistisch verfälschtes Verständnis von Freiheit ein engagiertes Plädoyer für eine Wiederentdeckung der Brüderlichkeit hält.9
Im Gegenüber begegnet uns Christus
Ich komme damit zu einem letzten Punkt in meiner etwas assoziativen Gedankenfolge: Den stärksten und zugleich letztlich unfasslichen Motivationszusammenhang karitativen Handelns sehe ich in der Gerichtsrede im Matthäus-Evangelium (Mt 25,21-46). Den Menschen, die sich der Armen, der an Hunger und Durst Leidenden, der Kranken, der Gefangenen, der Heimatlosen, der Nackten und ihrer Würde Beraubten annehmen, wird dort gesagt, dass ihnen in dieser heilsamen Begegnung Jesus Christus selbst begegnet. Es wird auch von denen gesprochen, die sich dieser Begegnung im doppelten Sinn verweigern. Beide wundern sich sehr, da sie davon ja keine Ahnung hatten. Aber es heißt ja auch nicht: Weil ihnen in den auf Hilfe angewiesenen Menschen Christus begegnet, haben sie sich um sie gekümmert, sondern: Indem sie diesen geholfen haben, haben sie dem gekreuzigten und auferstandenen Herrn geholfen. Eine tiefere Würde lässt sich der Begegnung zwischen Menschen, deren einer sich von der Not des anderen unmittelbar persönlich betreffen lässt, nicht zuerkennen. Eine Würde, die beide in die Welt Gottes hinein verweist, die sich dem reglementierenden Verfügen entzieht. Zu begreifen ist das nicht. Aber es sagt - jenseits aller scheinbar notwendigen Profilierung des kirchlichen Profils der Caritas, jenseits aller juridischen Verzweckung theologischer Sachverhalte und aller theologischen Überhöhung juristischer Sachverhalte - viel, nein, alles über die Christusbezogenheit mitmenschlichen Handelns aus. Alles andere ist zunächst einmal zweitrangig.10
Unterschiedliche Begabungen zulassen
Ich fasse zusammen: Helfen, karitatives Handeln heißt - nach den von Ruth Pfau zitierten Worten - Leben ermöglichen. Leben in einer Weite, die reglementierende Begrenzungen sprengt. Leben in einer Tiefe, die menschliche Vorstellungen und erst recht berechnende Denkweisen übersteigt. Leben ermöglichen heißt Neues schaffen, Innovation und Kreativität. Dies ist im Ursprung immer ein personaler Akt. Institutionen sind nicht kreativ und schaffen nichts Neues - wenn, dann leisten dies Personen in Institutionen. Letztere können, wenn ihre Verantwortlichen klug und offen sind, kreative Personen fördern und Innovation ermöglichen. Sie können Personen und Entwicklungen freilich auch behindern und lähmen, wenn sich Regelwerke und Strategien verselbstständigen und nicht mehr in Ursprung und Ziel am Personalen ausgerichtet sind. Für die verbandliche Caritas heißt das: Sie ist umso lebensnäher, je mehr es in ihr möglich ist und bleibt, dass Menschen sich auf ihre eigene Art, mit ihren je unterschiedlichen Begabungen (Charismen) und durchaus auch auf unterschiedlichen Aktions- und Verantwortungsebenen von der Not des anderen Menschen immer wieder persönlich betreffen lassen und um ihre je persönliche Antwort ringen. Mit anderen Worten: Ich hoffe, dass so wenig angepasste Persönlichkeiten wie ein P. Ernst Schnydrig auch heute die Chance haben, bei einem Caritasverband angestellt zu werden.
"Jesus sagte: Womit soll ich das Reich Gottes vergleichen? Es ist wie ein Stück Sauerteig, den eine Frau unter ein Maß Mehl mengt, bis das Ganze durchsäuert war." (Lk 13,20-21 // Mt 13,33)
1 Ruth Pfau, Leben ist anders. Lohnt es sich? Und wofür? - Bilanz eines abenteuerlichen Lebens,
Freiburg - Basel - Wien. 3. Aufl. 2014, 122.
2 Ebd.
3 A. a.O. 130.
4 Ebd.
5 Franz-Xaver Kaufmann, Zwischen Wissenschaft und Glauben. Persönliche Texte, Freiburg - Basel -
Wien 2014, 87.
6 Ebd.
7 Ebd.
8 Ebd.
9 A. a.O. 107-110.
10 Auf die Problematik einer Juridisierung theologischer und einer theologischen Überhöhung
juristischer Sachverhalte habe ich bereits 1997 in einem Beitrag über das kirchliche Arbeitsrecht
hingewiesen: Mitarbeit im kirchlichen Dienst, in: Jahrbuch für christliche Sozialwissenschaften, 38.
Band/1997: Soziale Gerechtigkeit, Münster/W. 1997, 64-80.