Freundliche Stimme
Rolf Kießling schiebt seinen Rollwagen über den langen Flur. Er hat es eilig, die Barkassen müssen eingeräumt und vorher kontrolliert werden, Tintenpatronen müssen nachbestellt werden, E-Mails gelesen werden … Das Telefon klingelt, er stoppt, drückt auf seinen Ohrstecker: "Die Caritas in Emsdetten, Kießling, guten Morgen." Da ist kein Stress zu hören, in aller Ruhe und mit großer Freundlichkeit wird das Anliegen geklärt.
Stimme spiegelt Stimmung wider. Deswegen empfiehlt es sich, bei trüben Gedanken die 02572/1570 anzurufen. Seit ich bei der Caritas bin - und das sind auch schon bald 20 Jahre -, tue ich das gerne. Denn immer gibt Rolf Kießling mir das Gefühl, sich über meinen Anruf zu freuen. Und zweifelsohne gehört er zu den bestinformierten Mitarbeitern der Caritas Emsdetten-Greven. Denn bei ihm im Empfang und in der Telefonzentrale laufen alle Fäden zusammen, holen die Kollegen ihre Post ab, und durch das runde Fenster in der Fassade der Geschäftsstelle sieht er gleich, wer kommt.Gut könnte man verstehen, wenn Kießling auch mal trüber Laune wäre.
Das Leben hat es nicht unbedingt immer gut mit ihm gemeint. Als seine Mutter vor 50 Jahren schwanger war, wurde gerade Contergan verboten. Aber da war es schon zu spät. Er wurde nur mit Armansätzen geboren. Die Daumen fehlen, und die Hände sind verdreht. Früh kam er in ein Internat für Körperbehinderte in Hannover, machte dort den Hauptschulabschluss. Höhere Bildung oder eine Ausbildung traute man ihm mit seiner Behinderung nicht zu. Die Zeit war so damals.
Gerne spricht Kießling nicht über diese Zeit und die Jahre danach arbeitslos zu Hause, unterbrochen von neuer Hoffnung in einer ABM-Maßnahme nach der anderen. Spürbar wird in den Zwischentönen, wie sehr dies ihn belastet hat und es ihn auch nach 22 Jahren bei der Caritas jeden Tag neu freut, zur Arbeit fahren zu können.
"Zu Hause sitzen geht nicht", sagt er: "Dafür bin ich zu gerne mit Menschen zusammen."
Am Anfang musste er nur das Telefon annehmen und die Überweisungen mit der mechanischen Schreibmaschine tippen. Heute hat er natürlich auch einen PC, koordiniert darüber Termine und ist mit dem Mobiltelefon unterwegs jederzeit erreichbar. Wenn er beispielsweise den Tagungsraum eindeckt oder in der Küchedaneben aufräumt.
Fast alles geht mit Standardtechnik, nur ein paar Anpassungen sind für seine Behinderung notwendig. Die Tische haben seine Höhe, und Schreibarbeiten erledigt er über ein Sprachprogramm. Die Spülmaschine lässt sich hoch- und runterfahren, so dass er sie in bequemer Stehhöhe ein- und ausräumen kann.
Typisch für Contergan, sind seine Gelenke besonders belastet. Die Hebelwirkung fehlt den Armen, immer wieder muss er sich auf die Knie fallen lassen, um tiefer positionierte Sachen greifen zu können. Die Schmerzen wachsen mit den Jahren und müssen mit immer stärkeren Mitteln bekämpft werden.
Trotzdem bleibt wenig Zeit, sich zwischendurch an den Fotos des Bildschirmschoners zu erfreuen. Frösche in leuchtend bunten Farben wechseln sich dort ab. In drei Terrarien halten er und seine Frau südamerikanische Pfeilgiftfrösche. Wobei sie in der Nachzucht praktisch nicht mehr giftig sind, wie er versichert. Und sie quaken auch nicht, sondern "singen wie Kanarienvögel". Weitere Sympathien gehören dem Fußball. Ab und zu fährt er gerne zu den Spielen von Hannover 96. Quer über dem Armaturenbrett seines Kombis liegt der schwarz-grüne Schal.
Aber seine eigentliche Leidenschaft ist die Caritas, und langweilig wird es ihm da nicht. "Jeder Tag ist hier anders", sagt Rolf Kießling. Natürlich gebe es auch mal Stress, aber "wo gibt es das nicht". Das bleibt für den Anrufer aber unhörbar.