Flucht in eine neues Leben
Als Ayla mit ihren fünf Kindern vor der Tür des unscheinbaren Häuserblocks in der Innenstadt von Münster stand, hatten die Misshandlungen ihres Mannes tiefe Spuren hinterlassen. Ihre Tochter, damals sieben Jahre alt, konnte ihre Beine zeitweise nicht mehr bewegen, ihre dreijährige Tochter sprach kein Wort, ihren Ältesten (17) erlebten die Mitarbeiterinnen des Frauenhauses als "sehr aggressiv und verschlossen". Mit der Zeit fanden sie heraus warum: "Er hatte Angst, zu werden wie sein Vater", erinnert sich Angelika Backhausen.
Gerne erzählt die Leiterin des Frauenhauses I des Sozialdienstes katholischer Frauen (SkF) die Geschichte dieser Familie. Weil die Flucht von Ayla in ein neues Leben gelungen ist. Es geht ihr gut, die beiden ältesten Söhne studieren, und die Töchter bringen gute Noten aus der Schule nach Hause. Dafür haben sie und ihre Mitarbeiterinnen alle Register gezogen, eine Aufenthaltsgenehmigung für die beständig von Abschiebung bedrohte Familie erreicht, zwei begehrte Plätze auf der katholischen Friedensschule für die Töchter gefunden und alle in Therapien vermittelt. Der Kontakt ist nie abgebrochen.
Die Geschichte verdeutlicht auch das Selbstverständnis der beiden Frauenhäuser des SkF in Münster: " Wir arbeiten parteilich für die Frauen, aber Kinderschutz steht an erster Stelle", sagt Angelika Backhausen, die seit 26 Jahren misshandelte Frauen begleitet: "Wir unterstützen die Frauen darin, ihre Kinder zu schützen und ihnen eine positive Entwicklung zu ermöglichen." Sollte eine Frau dazu nicht in der Lage oder "uneinsichtig für die Bedarfe ihrer Kinder sein", werde mit ihrer Kenntnis oder notfalls "auch gegen den Willen der Frau bei akuter Kindeswohlgefährdung das Jugendamt eingeschaltet", ergänzt Fachbereichsleiterin Nicole Stange. Der SkF Münster nimmt als einer von wenigen Trägern auch männliche Jugendliche "uneingeschränkt" bis zum Alter von 18 Jahren auf. Ansonsten, so die Erfahrung der SkF-Mitarbeiterinnen, ist die Hemmschwelle für die Frauen, Schutz zu suchen, zu hoch, wenn sie dafür Kinder zurücklassen oder ins Heim geben müssen.
Manchmal völlig überfüllt
Im Schutzhaus wird es manchmal eng. Eigentlich verfügt das 1981 gegründete Frauenhaus über Plätze für acht Frauen und acht Kinder. Viele Mütter kommen mit mehr Kindern. Vor gerade vier Wochen hat es auch Nachwuchs im Haus gegeben, das fünfte Kind einer jungen libanesischen Frau. In der Belegungsstatistik schlägt sich das mit Werten von über hundert Prozent nieder, und die werden in den letzten Jahren immer häufiger.
Schon in den ersten Jahren reichte die Kapazität nicht mehr. "Wir haben auf dem Dachboden zeitweise Matratzen ausgelegt", berichtet Backhausen. Konsequenz war das Frauenhaus II gleich nebenan mit nochmals 16 Plätzen. Denn um den Frauen und Kindern eine Chance auf einen neues, gewaltfreies Leben zu geben, ist die intensive Begleitung unabdingbar. Deswegen bleibt es heute bei acht Frauen pro Haus. Aber es wird niemand abgewiesen. "Wir suchen so lange, bis wir einen Platz in einem anderen Haus gefunden haben", so die Leiterin.
Mehr wäre schön, auch mehr Mitarbeiterinnen. Aber das bleibt gerade auch bei den Frauenhäusern eine Frage des Geldes. Seit 37 Jahren gibt es sie, 62 Frauenhäuser bieten in NRW Schutz und nehmen jedes Jahr rund 10000 Frauen und Kinder auf. Aber "es gibt nach wie vor weder einen Rechtsanspruch noch eine gesicherte Finanzierung", kritisiert Barbara Kick-Förster, die im Diözesan-Caritasverband Münster die Koordination für alle 15 katholischen Frauenhäuser im Land übernommen hat. Allen Protesten zum Trotz, denn immer wieder haben die Frauenhäuser mit Demonstrationen und Unterschriftenaktionen auf diesen Missstand hingewiesen. "Der Bund hätte die Gesetzgebungskompetenz", sagt Kick-Förster: "Er kann, muss aber nicht."
Zeichnung eines Kindes aus dem Frauenhaus in MünsterHarald Westbeld
Das Land gibt einen Teil des Geldes, in Münster engagiert sich die Stadt stark, aber "ohne Eigenmittel der Verbände ginge es nicht", so Kick-Förster. Zumindest hat die neue Landesregierung 2011 die vierte Stelle pro Haus wieder bewilligt, die 2006 den Kürzungen der Rüttgers-Regierung zum Opfer gefallen war.
Konkret bedeutet die Situation auch für das FrauenhausI des SkF Münster, dass drei Mitarbeiterinnen sich um die Frauen und Kinder kümmern und eine weitere um die Hauswirtschaft. So komplex und immer wieder anders, wie die Geschichten der Frauen und ihrer Kinder sind, so viel Zeit, wie es braucht, sie aufzufangen und neue Perspektiven zu entwickeln, reicht das nie. "Wir haben eine gute Unterstützung durch Ehrenamtliche", sagt Nicole Stange: "Ohne die ginge es gar nicht." Sie bieten Deutschunterricht und Kochkurse an, eine Juristin besucht mit den Kindern unter anderem gerne eine Zoohandlung, denn die kostet keinen Eintritt, und ein Rentner bereitet Fahrräder aus dem Fundbüro auf. "Einbringen kann man sich in jeder Form", lädt Angelika Backhausen ein. Gerne auch Männer, für die Kinder wäre das schon gut.
Überhaupt müssten die Frauenhäuser nach Meinung von Barbara Kick-Förster die Männer trotz aller traumatischen Erfahrungen mehr in den Blick nehmen. Entstanden seien sie aus der parteilichen Arbeit von Frauen für Frauen. Es reiche heute aber nicht mehr, sich nur um die Opfer zu kümmern. Die Frauenhauskonferenz in NRW setze sich seit einiger Zeit mit diesem Thema auseinander. "Wenn wir mittelfristig die Gewalt beenden wollen, müssen wir auch mit den Tätern zusammenarbeiten", sagt Kick-Förster.
Eine weitere Zukunftsaufgabe sieht sie darin, die guten Erfahrungen holländischer Frauenhäuser aufzugreifen und "Empowerment" anzubieten. Frauen müssten gestärkt werden, rechtzeitig und deutlich "Stopp zu sagen". Manchmal könne das schon Übergriffe der Männer verhindern.
Seelische und körperliche Schäden
Bei Ayla reichte nicht einmal die Flucht ins Frauenhaus. Ihr Mann, mit dem sie zwangsverheiratet worden war, spürte die Adresse auf, passte sie beim Einkauf im Supermarkt ab, warf sie zu Boden und trat auf sie ein. Das beherzte Einschreiten einer jungen Frau rettete sie, die Polizei griff ein. Nachdem er auch noch seine zwei Söhne, die er auf der Kirmes traf, mit einem Gürtel blutig geschlagen hatte, wurde er zu einem Jahr Haft auf Bewährung verurteilt. Noch in dieser Zeit ließ er seinen jüngsten Sohn in die Türkei entführen. Erst nach einem Jahr gelang es, ihn vom Militär befreien zu lassen und nach Deutschland zurückzuholen.
Ein besonders schlimmer Fall? "Es gibt viel krassere Fälle", sagt Angelika Backhausen: "Da bleiben nicht nur seelische Schäden, sondern auch körperliche."