"Das ist keine Kuschelpädagogik"
Caritas in NRW: Sind Sie in einem Ihrer Trainings schon einmal bedroht worden?
Hanjost Völker: Ich bin schon mehrfach bedroht worden, etwa als ich Jugendliche im Rahmen von Provokationstests an ihre Grenzen getrieben habe und mir dann einer sagte: "Herr Völker, hören Sie auf, sonst schlage ich Ihnen in die Fresse." Ein anderer hat mir gedroht, mich abzustechen.
Caritas in NRW: Sind Sie darauf vorbereitet, dass einer seine Drohungen umsetzt?
Hanjost Völker: Ja, körperlich bin ich darauf vorbereitet, ich habe keine Angst. Angst ist ein schlechter Ratgeber. Ich habe aber Respekt vor der Situation und versuche dann, die Situation zu entschärfen, bevor sie eskaliert. Außerdem habe ich bei den Trainings eine Standleitung zur Polizei. Die kann innerhalb von drei Minuten mit einem Streifenwagen bei meinem Büro sein.
Caritas in NRW: Wer sind die Teilnehmer?
Hanjost Völker: Teilnehmer sind ausschließlich bewährungspflichtige junge Männer, die dieses als Bewährungsauflage vom Gericht auferlegt bekommen haben. Sie müssen also kommen, weil sonst die Bewährung widerrufen wird. Dieses Druckmittel muss da sein, weil freiwillig keiner dieser jungen Männer erscheinen würde.
Caritas in NRW: Was für eine Art von Gewalttätern kommt zu Ihnen?
Hanjost Völker: Vorherrschend ist die Gewaltkriminalität, die auf Straßen abgeht. Ich rede von massiver körperlicher Gewalt: Jochbeinbruch, Schädelprellungen, Nierenquetschungen, Leute bespucken, Leute aufschlitzen. Ich hatte einen mittelalten Mann im Kurs, der hatte seine Frau vergewaltigt. Anschließend hat er sie auf Kniehöhe mit Benzin übergossen und angezündet, hat sie anschließend aber direkt wieder gelöscht.
Caritas in NRW: Wo liegen Ihrer Einschätzung nach die Wurzeln dieser Gewalttätigkeit?
Hanjost Völker: Jeder von diesen Tätern war früher auch Opfer, kommt meist aus destruktiven Familienverhältnissen. Ich hatte einen jungen Mann im Kurs, der sollte im Alter von acht Jahren für seinen Vater Zigaretten holen. Der Vater gab ihm damals 4 DM, Zigaretten kosteten aber nur 3,50 DM. Der Junge gab das Wechselgeld nicht zurück. Sein Vater bat ihn sehr ruhig in die Küche und drückte seine Hände dann zehn Sekunden auf die heiße Herdplatte. Seitdem hat er entstellte Hände, die sieht er jeden Tag. Das ist eine ganz massive Gewalterfahrung für das damalige achtjährige Opfer. Er ist dann Täter geworden. Die anderen Täter waren fast alle früher auch Opfer - wenn auch nicht alle so massiv wie dieser Junge. Vernachlässigt, dissozial aufgewachsen, körperlich gezüchtigt, teilweise auch körperlich vergewaltigt: Für diese jungen Männer ist die Täterrolle natürlich deutlich angenehmer als die Opferrolle.
Caritas in NRW: Kommen Sie bei Ihrer Arbeit auch an die Wurzeln des gewalttätigen Verhaltens heran, oder muss sich das Training auf die Arbeit an den Symptomen beschränken?
Hanjost Völker: Ich achte den Täter und ächte die Tat, und die Jugendlichen merken schon recht schnell, dass ich zwar sehr hart, aber fair mit ihnen umgehe und berechenbar bin. Sie brauchen eine klare Linie, und sie brauchen Eindeutigkeit. In ihrem bisherigen Leben haben sie das nie kennengelernt. Sie merken, ob man sie mag oder nicht. Bisher sind sie überall abgelehnt worden. Wenn da ein gewisses Maß an Vertrauen entsteht, kann ich sehr effektiv mit ihnen zusammenarbeiten. Als die Teilnehmer einmal verbal sehr massiv aufgetreten sind und mich sehr genervt haben, habe ich laut gebrüllt: "Warum mache ich diese Scheiße hier überhaupt?" Da sagte einer der Jungs: "Herr Völker, wir wissen doch, dass Sie das gerne machen." Das ist für mich ein sehr positiver Indikator gewesen, dass die Jungs das spüren. Aber das ist keine Kuschelpädagogik.
Caritas in NRW: Also ein sehr intensives Training, auch zeitlich gesehen?
Hanjost Völker: Sechs Monate lang, zwei Stunden pro Woche plus Hausaufgaben, damit die bei diesen wöchentlichen Abständen mit dem Thema konfrontiert bleiben. Da müssen sie sich zum Beispiel mit Fragen beschäftigen wie: Wie viele Opfer hast du produziert? Warum? Haben die Leute Angst oder Respekt vor dir? Natürlich sagen die Täter: Die Leute haben Respekt vor mir, weil die auf die andere Straßenseite gehen. Ich sage dann: Die Leute haben keinen Respekt, die haben nur Angst vor dir. Und wo bist du mit dieser Angst bisher gelandet? Du stehst kurz vor der Inhaftierung. Respekt muss man sich erarbeiten, Angst nicht.
Caritas in NRW: Die Teilnehmer sind zwangsverpflichtet. Wenn sie die Teilnahme verweigern, warten strafrechtliche Sanktionen, die - so schreiben Sie auf Ihrer Website - "natürlich sehr unangenehm sind. Noch wissen sie ja nicht, wie unangenehm und auch anstrengend ein Anti-Aggressivitäts-Training wird." Was ist das Unangenehme bei Ihrem Training?
Hanjost Völker: Schon allein, dass die jungen Männer zur Teilnahme gezwungen sind. Das kennen sie nicht, sie lassen sich sonst nicht zwingen. Das ist schon mal unangenehm. Und wenn ich dann direkt sage: "Wir sind hier nicht bei ,Wünsch dir was‘, sondern bei ,So isses‘, Kaugummis aus dem Mund, Kappen ab, Handys aus, es wird nichts gegessen, ihr könnt zwischendurch was trinken, es gibt feste Pausenzeiten, und hier bestimme ich und sonst keiner" - das ist für die jungen Männer etwas Neues. Wenn sie dann ins Nachdenken kommen und merken, warum sie überhaupt bei mir im Training sind und dass die Gruppe, die Peergroup, ihnen nicht helfen kann, sondern sie allein kurz vor dem Knast stehen, und merken, dass sie ihr Verhalten ändern müssen, ist das auch unangenehm. Das ist natürlich ein Bohren dicker Bretter.
Caritas in NRW: Sie provozieren die Teilnehmer auch. Wie sieht das aus?
Hanjost Völker: Jeder Teilnehmer landet irgendwann auf dem "heißen Stuhl", wo intensiv nach dem "Knackpunkt" gesucht wird. Derjenige muss sich alles ruhig anhören. Er wird nicht beleidigt, aber es werden zehn Minuten lang ganz konkret persönliche Schwachpunkte aufgezeigt. Negative Eigenschaften und Verhaltensweisen werden schonungslos besprochen, immer mit Bezug auf nahestehende Familienmitglieder, was für diese Jungs hochgradig heikel ist. Mit dem Tenor: "Wie kann deine Mutter einen so beschissenen Sohn haben?" Das tut natürlich weh. Es soll auch wehtun, aber die Jungs müssen das aushalten. Später gibt es die Auswertung mit einem positiven Feedback, etwa: "Wir sind sehr stolz auf dich, dass du es ausgehalten hast, dass du dein Fehlverhalten angenommen hast und es verändern willst." Dann wird das nachbereitet. "Hat es dich berührt, stimmen die Aussagen, die wir getroffen haben?" Der Jugendliche wird nie direkt vom "heißen Stuhl" entlassen. Er bekommt dann so etwas wie eine "warme Dusche", die der junge Mann dann auch braucht.
Caritas in NRW: In welchem Umfang erreichen Sie das Ziel der Gewaltlosigkeit mit Ihren Trainings?
Hanjost Völker: 70 Prozent der Teilnehmer halten durch und beenden das Training "erfolgreich". Das ist relativ viel. Ein bis zwei Teilnehmer pro Kurs melden sich im Nachhinein bei mir, was positiv ist. Durch meinen regelmäßigen Kontakt zur Polizei weiß ich, dass aus den bisher zwei Trainings mit insgesamt neun Leuten, die "bestanden" haben, einer rückfällig geworden ist. Das ist eine recht gute Quote.
Caritas in NRW: So mancher hat vielleicht kein Verständnis, dass so viel Zeit, Energie und auch Geld für die Behandlung von Gewalttätern aufgewendet wird.
Hanjost Völker: Diese ganze Arbeit passiert mit dem Ziel "Opferschutz". Jeder therapierte Täter bedeutet auch ein Opfer weniger. Und zwischen einer Ohrfeige und einem Aufschlitzen besteht auch wieder ein gradueller Unterschied. Die völlige Gewaltfreiheit ist natürlich ein sehr theoretisches Ziel. Es geht darum, Gewalt deutlich zu vermindern. Bei Staatsanwälten, Jugendrichtern und Polizei gibt es ein uneingeschränktes Einverständnis. Wenn ich Gewalt eindämmen will, muss ich mit den Tätern arbeiten und darf die Opfer nie aus den Augen verlieren. Es geht nicht nur um die Straftäter, es geht in erster Linie um die Opfer. Damit sich die ältere Frau auch im Halbdunkel gefahrlos durch die Stadt bewegen kann.
Caritas in NRW: Wie sehen Sie die Entwicklung von Gewalt in der Gesellschaft, und wie kann man gegensteuern?
Hanjost Völker: In den letzten drei Jahren ist die Anzahl der Gewalttäter nicht gestiegen, aber die Form der Gewaltausübung ist brutaler geworden. Bei den Gewalttätern handelt es sich im Allgemeinen um sozial benachteiligte und lernschwache junge Männer, denen sich im Rahmen von beruflichen Integrationsphasen zunehmend weniger Möglichkeiten bieten. Der erste Arbeitsmarkt für Hilfsarbeiter ist tot. Einfache Arbeiten gibt es nicht mehr. Die Jungs werden durch zwei, drei Fördermaßnahmen geschleust. Wenn sie Glück haben, bekommen sie einen Job in einer Leiharbeitsfirma, ansonsten sind sie arbeitslos und haben keine Perspektive. Wir brauchen Arbeitsplätze für nicht qualifizierte junge Menschen. Es gibt junge Menschen, die sind eben nicht bildungsfähig. Und die dürfen nicht auf der Strecke bleiben. Die müssen wir so integrieren, dass sie mit einem geringen Verdienst ihren Lebensunterhalt bestreiten können und eine kleine Aufgabe haben. Sonst haben wir bald Zustände wie in England oder Frankreich: Die Jungs gehen auf die Straße, weil sie keine Perspektive mehr haben, und die Vorstädte brennen.
Das Interview führte Markus Jonas.