"Soziale Arbeit auf Tontafeln?"
Die Obdachlosen nennt er, deren Zahl im Bund nicht einmal statistisch erfasst sei, es müssten 600000 bis 800000 sein, darunter 60 Prozent Kinder und Jugendliche. "Wir nehmen sie nicht wahr. Wir tun nichts für sie. Wir haben sie abgeschrieben und bezeichnen sie als Asoziale. Aber sind denn Kinder und Jugendliche asozial? Können sie etwas dafür, dass ihr Vater Trinker ist oder ihre Mutter auf den Strich geht?", fragt Brisch. Das Hauptproblem jedoch - so die Kernthese seines Beitrags - sei "die Isolation des Menschen unserer Zeit". Soziale Arbeit, schreibt Brisch, sei nicht mehr nur "Arme-Leute-Kram", sondern hilfsbedürftig könne man in allen Schichten sein: in einer zerrütteten Ehe, mit einem versagenden Kind, als Rauschgift-süchtiger, als Einsamer, als Trinker, als Neurotiker, als Alter.
Doch die Caritas stehe im Geruch, "wir machten ‚Arme-Leute-Kram‘, und die Sozialarbeiter, die stehlen und lügen und haben Krätze und Läuse". Und warum dieses Image? "Ich weiß, wir sind da selbst mitschuldig, denn wir haben es nicht gelernt, mit den Massenkommunikationsmitteln umzugehen, und wir verkaufen den Auftrag der sozialen Arbeit in der modernen Zeit noch mit Hilfe assyrischer Tontafeln. Wir erhalten die Sendezeiten im Fernsehen ab 22.45 Uhr, wenn das große Gähnen begonnen hat." So weit Caritasdirektor Brisch.
Es spricht einiges dafür, dass die Herausgeber, die Diözesan-Caritasverbände Aachen, Essen, Köln, Münster und Paderborn, die Gründung einer gemeinsamen Zeitschrift als Antwort auf die Erkenntnis dieser Defizite verstanden. Dabei verzichteten die Verbände zugunsten eines landesweit erscheinenden Organs auf diözesane Mitteilungsblätter, um die Kräfte zu bündeln und die Kommunikation gegenüber der Öffentlichkeit zu stärken. Dem dienen Grundsatzartikel und Kommentare - auch zu laufenden Gesetzgebungsverfahren. So pocht beispielsweise der münstersche Bischof Heinrich Tenhumberg 1972 auf die Eigenständigkeit der freien Träger beim geplanten Krankenhausfinanzierungsgesetz - und "Caritas in NRW" berichtet selbstverständlich.
Von Anfang an gibt es aber auch den Bistumsspiegel, die Nachrichten aus den einzelnen Diözesan-Caritasverbänden, die viel für die Akzeptanz bei den Leserinnen und Lesern "ihrer" "Caritas in NRW" beitragen. Von Anfang an spielt die Auslandshilfe eine Rolle, Spendenaufrufe zugunsten von Ostpakistan, Flüchtlingsprobleme in Indien finden ihren Platz in den ersten Ausgaben des neuen Mitteilungsblattes. Und auf andersfarbigem Papier gedruckt und zum Sammeln heraustrennbar, existiert ab der ersten Ausgabe ein Recht-Informationsdienst, der aktuelle Mitteilungen, Hinweise und Empfehlungen liefert. Anfangs als Loseblattsammlung konzipiert, steht er heute als Datenbank mit Volltextsuche im Internet zur Verfügung.
Verantwortlicher Redakteur der neuen Zeitschrift "Caritas in Nordrhein-Westfalen" wird Erich Kock, der das Blatt in den folgenden 19 Jahren prägt. Kock, 1925 in Münster geboren, hatte von 1961 bis 1968 Heinrich Böll als dessen persönlicher Sekretär unterstützt. Doch Kock war selbst Schriftsteller und Publizist, das Verzeichnis der Eintragungen im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek umfasst die beeindruckende Zahl von 39 Veröffentlichungen als Autor oder Herausgeber. Er leitet die Redaktionskonferenz, der neben einem Diözesan-Caritasdirektor als Vertreter der Herausgeber die Öffentlichkeitsreferenten der einzelnen Diözesan-Caritasverbände in NRW angehören. So ist es noch heute.
Die Zeitung will informieren über die praktische Caritasarbeit "vor Ort", nie ist sie ein reines Expertenforum. Beiträge zur "Eingliederung der heimatlosen Ausländer und ausländischen Flüchtlinge" finden sich ebenso wie ein Kommentar zur "Herabsetzung des Volljährigkeitsalters und Heimerziehung" oder aber im Bistumsspiegel der Bericht des Diözesan-Caritasverbandes Aachen über die Schwerpunkte seiner Arbeit 1971. Die Dokumentation der Caritasarbeit ist ebenfalls eines der Ziele. Aus heutiger Sicht kann man nur staunen über die Vielzahl der Themen. Da findet sich ein Aufsatz über "Sozialhilfe und freie Wohlfahrtspflege im Spannungsverhältnis von Staat und Gesellschaft" (1973), mit dem ein Schwerpunkt-Thema eingeleitet wird, das die Caritas auch heute beschäftigt. Und: immer wieder die üblichen Caritas-Themen: "Das Ehrenamt in der Caritas" (1/76), "Körperbehinderte heute" (3/77), "Schwangerenberatung" (5/77), "Psychisch Kranke" (1978). Es finden sich aber auch eher ungewöhnliche Themen wie z. B. "Not und Leid in Literatur und Kunst" (1975), "Liebe und Bürokratie" (1976).
Ständige Weiterentwicklung
Die neue Zeitschrift stößt auf Zustimmung: "Durch das gemeinsame Mitteilungsblatt sind wir enger zusammengerückt; es wird noch deutlicher nach außen sichtbar, daß der wichtige - ja entscheidende - Auftrag der kirchlichen Liebestätigkeit heute optimal nur dann erfüllt werden kann, wenn alle zusammenarbeiten, die sich dem gleichen Anliegen - jeder in seinem Verantwortungsbereich - verpflichtet fühlen", schreibt ein Leser "mit großer Freude".
Anfangs in nach heutigen Maßstäben sehr kleiner Schrifttype und fast ohne Bilder, entwickelt sich die Zeitschrift weiter. Nach einigen Jahren wird die Schrift-type vereinheitlicht und größer gesetzt, 1986 erscheint die Zeitschrift mit einem ganzseitigen Titelbild, 1990 erstmals im heute so vertrauten Caritas-Rot. Unter einem neuen Chefredakteur ändert sich das Format, die Erscheinungsweise pendelt sich bei fünf Exemplaren pro Jahr ein, das Redaktionsbüro wird von Köln nach Essen zum dortigen Diözesan-Caritasverband verlegt.
1995 wieder ein Umzug, diesmal nach Aachen. Regelmäßig trifft sich die Redaktion, um gemeinsam mit dem Vertreter der Herausgeber die Ausgaben zu planen, Themen zu diskutieren und Artikelvorschläge zu machen. Waren diese Sitzungen in den Anfangsjahren Berichten zufolge manches Mal sehr kontrovers, immer leidenschaftlich und emotionsgeladen, so entwickelt sich nun eine neue Sachlichkeit, gepaart mit einer größeren Professionalität in der Zusammenarbeit. Davon und vom guten Verhältnis untereinander profitieren die Öffentlichkeitsarbeit der einzelnen Verbände und die Caritas in NRW als Ganzes bis heute. Sichtbares Zeichen dieser Jahre vor der Millenniums-Wende ist der Start der "Aktion Lichtblicke" gemeinsam mit Diakonie und den Lokalsendern in NRW.
Auch im neuen Jahrtausend entwickelt sich die Zeitschrift weiter: Sie erscheint jetzt regelmäßig viermal im Jahr, immer zu Beginn des neuen Quartals. 2002 kommt als neues Medium der Infodienst "Caritas in NRW - AKTUELL" hinzu, der sechsmal im Jahr als aktueller Newsletter und dadurch stärker noch politisch als das Quartalsmagazin die Stimme der Caritas in NRW erhebt. Und - endlich - erscheint "Caritas in NRW" seit einigen Jahren in Farbe. Bilder sind ungleich wichtiger geworden, die Texte müssen kürzer sein, doch am Grundkonzept hat sich so arg viel nicht geändert. Hinzu kommt die Website, die die Themen des Heftes aufnimmt und die Internetpräsenz der Diözesan-Caritasverbände ergänzt. Und seit Kurzem: Ein Auftritt in Facebook "ad experimentum" positioniert die Themen der Caritas in NRW auch in den sozialen Medien.
Der Erfolg? Niemand bringt heute mehr Sozialarbeiter mit Krätze und Läusen in Verbindung. Das Image der Caritas ist gut - in allen sozialen Schichten. Und für die Öffentlichkeitsarbeit der Caritas nutzt niemand mehr assyrische Tontafeln.