Kirche vor Ort
"Blühendes Hövi" ist eine Aktion, das eigene Viertel, den Sozialraum zu verschönern: überall werden Blumenzwiebeln gesetzt.Markus Lahrmann
Der Theologe Hans-Joachim Höhn sagt: "Das theologische Selbstverständnis der Kirche als Zeichen des Heils, als Salz der Erde ist extrovertiert - auf Offenheit und Öffentlichkeit angewiesen.
"Extraversion meint eine Haltung, die sich von sich selber weg nach außen wendet. Wer extrovertiert ist, empfindet den Austausch und das Handeln innerhalb sozialer Gruppen und zwischen ihnen als anregend. Jürgen Habermas versteht Öffentlichkeit als die "Sphäre der zum Publikum versammelten Privatleute" ("Publikum": dem Volk, der Allgemeinheit zugehörig, die öffentliche Versammlung). Interessant: Kirche so verstanden wäre dann ein offener Raum für Heilvolles. Der Raum, der nicht um seiner selbst willen da ist, der auf den anderen oder das andere hin angelegt ist. Und die Menschen dort sind keine "Privatiers", sondern werden selbst Teil der res publica, der "öffentlichen Sache", die auch in der Kirche verhandelt wird. Jürgen Werbick ergänzt: "Die Orte selbst vermitteln die Erfahrung von Zugänglichkeit oder verweigern sie; sie sind Zeugnis für Gottes Zugänglichkeit - oder Antizeugnis" (J. Werbick, Warum die Kirche vor Ort bleiben muss. S. 72). Er verweist auf Zweierlei: Der Zugang zur Kirche darf nicht hermetisch verschlossen sein, er wird nicht einmal gewährt, er ist selbstverständlich. Denn Gott ist selbstverständlich zugänglich. Wenn die Kirche verschlossen oder ein geschlossenes System ist, wird sie zum "Antizeugnis", zum Gegenteil von dem, was sie eigentlich sein soll. Quasi ein Un-Ort.
Kirche: In die Fläche bestellt
Auf dem Gelände der Gesamtschule in Köln-HöVi* befindet sich eine große Grünfläche, die an einen öffentlichen Weg grenzt. Die Fläche war mit den Jahren sehr verwildert. Große Büsche machten sie undurchdringlich, Kinder und die meisten Jugendlichen haben diesen Ort gemieden. So konnten sie einen beträchtlichen Teil "ihres" Schulhofs nicht mehr nutzen. Im Gebüsch wurden Drogen verkauft.
Das Grünflächenamt der Stadt hatte keine Kapazitäten, um zu helfen. Also sprang ein Team von ehrenamtlichen Leuten aus dem Viertel ein, ergänzt durch einige Hartz-IV-Kräfte der Gemeinde. Und im Handumdrehen wurden die Büsche entfernt, Bäume gefällt oder zurückgeschnitten. Es entstand eine neue große Wiese, keine dunklen Ecken mehr. Schüler und Lehrer waren begeistert. Wem gehört die Stadt? So könnte man fragen. Zumindest aber: Wie soll unser Ort beschaffen sein? Wie soll der Sozialraum sein? Welche Qualität soll er haben? Welches Klima soll herrschen?
Als Pastoralreferent, Jugendleiterin, Lehrerin oder Priester in einem eher ärmeren Viertel erhält der oder die sehr schnell Respekt von den Menschen im Viertel entgegengebracht, wenn diese den Eindruck haben: "Der/die setzt sich nicht ab." Stehe ich an der gleichen Supermarktkasse mit anderen Kunden und schimpfe über den miesen Service, kämpfe ich mit anderen Eltern in der gleichen Elternpflegschaft für eine gute Schule, trinke ich hin und wieder in der gleichen Eckkneipe mein Kölsch, dann geschieht schon ganz viel. Die Leute merken: "Er ist einer von uns." Nicht wie ein Berater, der morgens kommt und nachmittags wieder in seine Behaglichkeit irgendwo außerhalb entwischt.
Den Sozialraum mit allen anderen teilen, einfach dazugehören: für die Menschen in diesem Raum ist das eine ganz wichtige Beobachtung, für einen selbst eine Erkenntnis, für die Qualität und das Gelingen in der Arbeit vielleicht der wichtigste Dünger. Das heißt nicht, dass man sich an das Leben der Menschen und die Verhältnisse, die man vorfindet, völlig unterschiedslos anpasst. Aber dadurch, dass Menschen spüren: "Er oder sie ist eine oder einer von uns!", werden die eigenen Akzente für andere Menschen interessant. Ihre Neugier erwacht. Wo passiert "das Heil"? Natürlich im gemeinsamen Gottesdienst. Aber dort bleibt es nicht zwischen Mauern zurück. Vor der Kommunionspendung sagt der Priester manchmal: "Werdet, was ihr empfangt: Leib Christi. " Früher hieß es auf Latein am Ende der Messe: "Ite, missa est." Übersetzen könnte man mit: "Los geht’s! Ihr seid geschickt!" Das heißt, der Gottesdienst geht auf den Straßen und Plätzen, an der Supermarktkasse, bei der Elternpflegschaft oder in der Eckkneipe weiter. Das heißt aber auch, dass die Straßen und Plätze wie die Kirche Orte des Gottesdienstes sind. Und "drinnen", in der Kirche, hat das, was "draußen" passiert und die Menschen bewegt, seinen Platz. Der Gottesdienst bezieht den Sozialraum ein. Was denn anderes könnte das Zweite Vatikanische Konzil gemeint haben, als es sagte: "Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fande" (Gaudium et Spes, 1). Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen, ihr Alltag finden im Gottesdienst statt. Und für eine segensreiche Pastoral ist der Sozialraum immer der Ausgangspunkt. Was heißt das konkret? […]
Stellen Sie sich für einen Moment vor, Sie wären Lehrerin oder Lehrer, sagen wir an einer Grundschule. Und stellen Sie sich weiter vor, Sie beginnen ein neues Schuljahr als Klassenlehrerin oder -lehrer mit neuen Schülerinnen und Schülern. Sie stellen fest, ein Drittel der Kinder hat eine unvollständige Ausstattung: Keine Buntstifte, keine Hefte, keinen Schnellhefter, keinen Ordner, vielleicht sogar keinen oder nur einen zerschlissenen Ranzen. Die Frage nach Bildungsgerechtigkeit und Teilhabe an Bildung ist dann keine theoretische mehr, sie ist Ihnen plötzlich auf den Pelz gerückt. Wie gehen Sie vor? Sie könnten die Eltern ermahnen, die Sachen einzukaufen. Sie könnten mit der Schulleitung oder mit dem Ministerium das Problem erörtern, dagegen protestieren und mehr Geld und Unterstützung fordern. Schön wäre aber, wenn Sie einfach an einen Ort gehen könnten, wo Sie all dies unbürokratisch für die Kinder mitnehmen könnten. Zum Beispiel in einem Schulbuchkeller der Kirchengemeinde. Dort gehen Sie mit Ihrer Liste hin und nehmen das mit, was Sie für Ihre Kinder, aber auch für Ihren Unterricht brauchen: Filzstifte, dicke und dünne Pappe, Scheren, Zirkel, sogar Schultüten für die Einschulung und moderne Schulranzen. Denn dort werden solche gespendeten Sachen angenommen, sortiert und wieder abgegeben. Natürlich wäre es für alle besser, man bräuchte so eine Einrichtung nicht. Sozialräumliches Denken bedeutet aber: Wir alle kümmern uns gemeinsam um die Basics, weil wir die wirkliche Lage in den Blick nehmen. Es gibt nicht mehr wir hier und ihr da, diesseits und jenseits. Gemeinsam kümmern wir alle uns um gute Bildung, gutes Wohnen, gute Ausbildung und gute Arbeit, um Kultur, ein schönes Wohnumfeld. Weil alle merken, was man alleine nicht, aber gemeinsam erreichen kann. Weil wir uns auf gemeinsame Ziele verständigt haben. Nichts spricht dagegen, dass eine gute Bildung im Sozialraum auch auf der Agenda der Kirchengemeinde steht.
GOTTES Heil im Viertel
Die Beispiele aus dem Schulbereich zeigen: Die gemeinsam und füreinander wahrgenommene Verantwortung prägt, gestaltet und stabilisiert den Sozialraum. Die Pointe: Sie prägt, gestaltet und stabilisiert auch die Kirche als Teil des Sozialraums, auch wenn das nicht die Intention war. Es besteht die begründete Hoffnung - wir lesen sie an der Wirklichkeit ab -, dass sich der Sozialraum dadurch positiv verändert. Ist das vielleicht das Heil, das durch die "Schickung" - "Ite, missa est!" - passieren soll?
* Köln-HöVi meint die Stadtviertel Höhenberg und Vingst im rechtsrheinischen Köln. Die Sozialstruktur der beiden Viertel ist sehr ähnlich, beides sind Stadtteile mit "besonderem Erneuerungsbedarf".
Auszug aus dem höchst lesenswerten Buch:
Meurer, Franz; Otten, Peter:
"Wenn nicht hier, wo sonst? Kirche gründlich anders."
Nachdruck mit freundlicher Genehmigung © by Gütersloher Verlagshaus,
Gütersloh, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München