Ja, wo leben wir den?!
Bis in einzelne Straßenzüge (im Stadtbezirk Bochum-Mitte) hinein kann die Verteilung der Milieus analysiert werden. Sinus
In der aktuellen Debatte um die Sozialraumorientierung in der Caritasarbeit (s.a. die Zeitschrift Neue Caritas 8/2011, S.36ff) kann die Beschäftigung mit den Ergebnissen der Milieuforschung des Sinus-Instituts einen wertvollen und sehr praxisnahen Beitrag liefern. Diese Ergebnisse korrespondieren eindrucksvoll mit den grundlegenden Einsichten im Diskussionspapier des Deutschen Caritasverbandes zur "Sozialraumorientierung in der Caritasarbeit" (ebd.)
Das Heidelberger Markt- und Sozialforschungsinstitut Sinus hat im Herbst 2011 eine aktualisierte Gesellschaftsstudie vorgelegt, die verschiedene gesellschaftliche Milieus voneinander abgrenzt, identifiziert und beschreibt. Die zehn in Umfragen aus dem Jahr 2010 ermittelten Sinus-Milieus fassen Menschen zusammen, die ähnlich "ticken", also als Gleichgesinnte in Bezug auf ihre Grundorientierung (Lebensstil, Ästhetik, Geschmack, Werte) und - nachrangig - auf ihre soziale Lage (Bildung, Einkommen, Besitz) gelten (siehe u. s. Übersicht).
Der Forschungsansatz des Sinus-Instituts greift insbesondere das erste und grundlegendste Prinzip der Sozialraumorientierung auf: "Ausgangspunkt aller Aktivitäten im Sozialraum sind grundsätzlich die Interessen, die Bedürfnisse, der erhobene und erklärte Wille der Wohnbevölkerung. Sie - die Betroffenen, Beteiligten und Interessierten - agieren als Experten und Gestalter" (nc 8/2011, S. 38f.).
Das Sinus-Institut (www.sinus-institut.de) erforscht deshalb seit über 30 Jahren alle wichtigen Alltagsbereiche aus der jeweiligen subjektiven Sicht der Personen, die diesen Alltag erleben. Das geschieht in jährlich durchgeführten 1000 qualitativen Interviews, die der detaillierten Beschreibung der einzelnen Milieus dienen, und jährlich 100000 nachgeschobenen quantitativen Befragungen, die über die prozentuale Verteilung der Milieus in Deutschland Auskunft geben (siehe u. s. Grafik).
Eine detaillierte Milieukenntnis erleichtert es den ehrenamtlichen und hauptberuflichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Caritas, mit ihren Klienten, Patienten, Gästen, Bewohnern und "Kunden", aber auch untereinander adäquat, d. h. "milieusensibel" in Kontakt zu treten. Genau darin besteht das Kernanliegen der Caritas, sich mit den Sinus-Milieus zu beschäftigen.
Ebenso sind die Erkenntnisse verwendbar für die Öffentlichkeitsarbeit und das Fundraising und - verbandsintern - für die (Weiter-)Entwicklung von Angeboten und deren geografische Verortung im Sozialraum, die Personalentwicklung und -einsatzplanung wie auch für die Teamentwicklung.
Die mit dem Sinus-Institut kooperierende Firma Microm (www.microm-online.de) erstellt mit den Methoden des Geomarketings deutschlandweit Karten, in denen sich die Milieuverteilung in Städten, Stadtteilen, Straßenabschnitten ablesen lässt (s. Grafik oben) und die - oben beschriebene detaillierte Milieukenntnisse vorausgesetzt - ein sehr hilfreiches zusätzliches Instrument für die Sozialraumanalyse darstellen.
Milieukenntnisse und Microm-Karten ermöglichen eine zielgruppenpräzisere Ansprache und damit auch sozialraumorientierte Verortung von Angeboten, Diensten und Einrichtungen der Caritas zugleich, weil Verantwortungsträger sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Caritas gut darum wissen, wie (unterschiedlich) die Menschen "ticken" und wo genau diese unterschiedlich "tickenden" Menschen in den Städten und Stadtteilen, von denen oftmals Letztere von eindeutigen Milieudominanzen geprägt sind, leben.
Die meisten Diözesen (Pastoraldezernate, Seelsorgeämter in den Generalvikariaten) in Nordrhein-Westfalen haben Microm-Karten für ihren Einzugsbereich für die Weiterentwicklung der Pastoral und für die pastoralplanerische Ausgestaltung der neuen (größeren) pastoralen Räume erworben. In der Diözese Essen hat sich der Diözesan-Caritasverband von Beginn an durch den Miterwerb der Microm-Karten daran beteiligt. So wurden schon viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Caritas aus den unterschiedlichsten Diensten und Einrichtungen und Hierarchieebenen in Fortbildungen und Inhouseschulungen mit den Sinus-Milieus vertraut gemacht. Auf dieser Basis wurden auch in der anschließenden Beratungsarbeit die Microm-Kartenausschnitte für entsprechende Sozialraumanalysen zugänglich gemacht.
10 Sinus-Milieus in Deutschland
Konservativ-etabliertes Milieu
Das klassische Establishment: Verantwortungs- und Erfolgsethik; Exklusivitäts- und Führungsansprüche; Standesbewusstsein, Entre-nous-Abgrenzung
Liberal-intellektuelles Milieu
Die aufgeklärte Bildungselite: liberale Grundhaltung und postmaterielle Wurzeln; Wunsch nach selbstbestimmtem Leben, vielfältige intellektuelle Interessen
Milieu der Performer
Die multi-optionale, effizienzorientierte Leistungselite: global-ökonomisches Denken; Konsum- und Stil-Avantgarde; hohe IT- und Multimedia-Kompetenz
Expeditives Milieu
Die ambitionierte kreative Avantgarde: mental und geografisch mobil, online und offline vernetzt und auf der Suche nach neuen Grenzen und neuen Lösungen
Bürgerliche Mitte
Der leistungs- und anpassungsbereite bürgerliche Mainstream: generelle Bejahung der gesellschaftlichen Ordnung; Wunsch nach beruflicher und sozialer Etablierung, nach gesicherten und harmonischen Verhältnissen
Adaptiv-pragmatisches Milieu
Die moderne junge Mitte unserer Gesellschaft mit ausgeprägtem Lebenspragmatismus und Nutzenkalkül: zielstrebig und kompromissbereit, hedonistisch und konventionell, flexibel und sicherheitsorientiert; starkes Bedürfnis nach Verankerung und Zugehörigkeit
Sozialökologisches Milieu
Konsumkritisches/-bewusstes Milieu mit normativen Vorstellungen vom "richtigen" Leben: ausgeprägtes ökologisches und soziales Gewissen; Globalisierungs-skeptiker, Bannerträger von Political Correctness und Diversity
Traditionelles Milieu
Die Sicherheit und Ordnung liebende Kriegs-/Nachkriegsgeneration: verhaftet in der alten kleinbürgerlichen Welt bzw. in der traditionellen Arbeiterkultur; Sparsamkeit, Konformismus und Anpassung an die Notwendigkeiten.
Prekäres Milieu
Die um Orientierung und Teilhabe bemühte Unterschicht mit starken Zukunftsängsten und Ressentiments: Häufung sozialer Benachteiligungen, geringe Aufstiegsperspektiven, reaktive Grundhaltung; bemüht, Anschluss zu halten an die Konsumstandards der breiten Mitte
Hedonistisches Milieu
Die spaß- und erlebnisorientierte moderne Unterschicht/untere Mittelschicht: Leben im Hier und Jetzt, Verweigerung von Konventionen und Verhaltenserwartungen der Leistungsgesellschaft