Quartier – Nachbarschaft – Sozialraum?
Dr. Alfred Etheber, Bereichsleiter für Theologische Grundlagen und Verbandsarbeit beim Caritasverband für das Bistum Aachen
Bei genauer Beobachtung der momentan in hoher Konjunktur stehenden Begriffe Quartier, Sozialraum und Nachbarschaft und ihrer Derivate ist eine Begriffsunschärfe nicht übersehbar. Zugleich ist die vorder- oder untergründige Interessenlage im Gebrauch der Begriffe offenkundig, auch wenn sich inzwischen die Betonung des Ausgangs von den Interessen der Bürger/-innen durchgängig etabliert hat.
Festzuhalten ist: Alle drei Begriffe haben mit dem realen oder gefühlten räumlichen Zusammenhang von Menschen, also deren Lebensort, zu tun. Zugleich geben sie Auskunft über die praktische Lebenssituation, also über spürbare Lebenslagen und konkrete Beziehungsdimensionen von Menschen. Es gilt also, gut zu unterscheiden und genau darauf zu achten, wer von wem spricht und sagt, er lebe in einem bestimmten Quartier, einem Sozialraum, einer Nachbarschaft und er sei in einer bestimmten Lebens- oder Problemlage. Das ist darum wichtig, weil unter der Hand eine soziale und bürgerschaftliche Entwicklung stattfindet, die das alte Kapitel der "Gemeinwesenarbeit" und tradierte Paternalismen des Helfens hinter sich lässt und als demokratische Neufindung noch viele Überraschungen bereithält. Dabei wird sie auch vor der Definition der Begriffe keinesfalls haltmachen und mit dem Finger auf die zurückzeigen, die z. B. "Quartiere mit besonderem Erneuerungsbedarf" ausrufen.
Wer hat die Definitionshoheit für soziale Räume und deren Probleme? Klaus Dörner als wacher Beobachter der Entwicklung macht deutlich, dass "diese basale Bürgerbewegung des neuen Hilfesystems noch kein Bewusstsein ihrer selbst hat. Jeder bröselt an seinem Ort vor sich hin, was synergetische Wirksamkeit der Gesamtbewegung nicht gerade fördert" (Dörner 2010, S. 65). Dies wird sich aber absehbar ändern, und die Caritas kann mit ihrer Option für die Menschen, ihrer Fachlichkeit und Reflexion auf soziale Räume dabei eine wertvolle Rolle spielen; dominieren wird sie die Prozesse freilich nicht.
Das unmittelbare Quartier und das Management desselben, aber auch die sozialen Räume generell sind auf diesem politisch gewordenen Hintergrund als Strukturbegriffe von meist kommunal verantworteten Definitions- und Steuerungsbewegungen neu zu lesen. Positiv wollen sie das Wohl der Menschen, negativ aber werden dieselben Menschen "sozial kartografiert", so dass sie mit dem Ziel der Herstellung einer "Alltagssicherheit" "häufig einer verstärkten polizeilichen und kriminalpräventiven Bearbeitung ausgesetzt werden" (Kessl, Reutlinger 2010, S. 11). Die Abwehr paternalistisch ausgerichteter Ordnungsabsichten ist mit den diversen Programmen der Quartiersentwicklung also keineswegs gesichert. Es kommt folglich auf die wirklichen Absichten und die Qualität bei der Herstellung der Bürgerbeteiligung an, so dass die Ermöglichung einer Mitautorenschaft der Menschen des Quartiers stattfindet. Das geht nur auf dem mühsamen Weg der Beteiligung bei der Ziel- und Methodenfindung, wie sie etwa das Konzept des Community Organizing vorsieht (vgl. Baldas 2010).
Von Seiten der Wohlfahrtsverbände und Hilfsorganisationen wird dabei viel verlangt, weil Hilfskonzepte oft, an staatlichen Vorgaben orientiert, versäult arbeiten und sie auch in der Refinanzierung kaum durchlässig für die Lebensorte und -lagen der Menschen sind. Im Quartier aber haben die Jungen mit den Alten und das Thema Migration mit dem Einkaufen und der Erreichbarkeit von Bushaltestellen etwas zu tun. Die "Sozialraumorientierung", wie sie in der Caritas derzeit neu diskutiert wird, kann dabei ein wertvoller Zwischenschritt sein, auch wenn sie oft "nur" mit dem kleinen Schritt einer sozialräumlichen Öffnung einer Einrichtung (z. B. Altenheim, Beratungsstelle, Kita) für den Sozialraum beginnt. Damit aber ist viel gewonnen, wenn die Nachbarschaft eingeladen ist hinzuzutreten und die Menschen der Einrichtung sich an den bürgerschaftlichen Prozessen des Quartiers beteiligen.
Literatur
Klaus Dörner, Leben und sterben, wo ich hingehöre. Dritter Sozialraum und neues Hilfesystem.
Neumünster, 5. Aufl. 2010.
Fabian Kessl, Christian Reutlinger, Sozialraum. Eine Einführung.
Wiesbaden, 2. Aufl. 2010.
Eugen Baldas (Hg.), Community Organizing. Menschen gestalten ihren Sozialraum.
Freiburg 2010.