Hier ist das wahre Leben
Den Kartoffelschälwettbewerb hat Trudi eindeutig für sich entschieden. Zivi Jonas Teller-Weyers hatte da keine Chance gegen die 70-Jährige. Jahrelang hat sie in der Schälküche in St. Bernardin gearbeitet, einer Wohnanlage für Menschen mit Behinderungen in Sonsbeck-Hamb. Jetzt genießt sie ihre Rente, aber die Übung ist noch da, und gerne nutzt sie sie, wenn mittags in der großen Küche des "Kaminzimmers" gekocht wird.
Andere Bewohner beschäftigen sich hier auf dem "Marktplatz" mit Bastelarbeiten, sie weben, malen oder produzieren noch in aller Ruhe aus kleinen Holzstäbchen Anzünder für Öfen. Einmal in der Woche kommt auch Anne vorbei, die älteste Bewohnerin in St. Bernardin. Öfter schaffe sie es nicht, sie habe zu viel zu tun, erklärt die 96-Jährige.
"Hier ist das wahre Leben", sagt Miriam Kools, die die Bewohner im Kaminzimmer zusammen mit ihrer Kollegin Helena Haesser betreut. "Marktplatz" - so heißt nicht nur ein Platz unter freiem Himmel, der im Sommer gerne zum Sonnen, Treffen und Klönen genutzt wird, sondern gemeint sind auch die ringsum angeordneten Räume. Da sind die "Werkhalle" und das "Kaminzimmer", der Computerraum, die Bibliothek und die Heißmangel. "Marktplatz" ist gleichzeitig der treffende Name für das Projekt zur Betreuung der Bewohner im Ruhestand.
Bei einem vergleichsweise hohen Anteil älterer Bewohner jenseits des Werkstattalters wurde seinerzeit die Frage in St. Bernardin zunehmend akuter, was diese tagsüber machen sollten. Die Betreuung in den Wohngruppen ist zwar sichergestellt, aber die Möglichkeiten innerhalb der Gruppen sind stark eingeschränkt. Es wäre auch nicht das, was sich die Bewohner wünschten, erklärt Hans-Dieter Kitzerow, Leiter in St. Bernardin. Bei einer Befragung war das Ergebnis verblüffend einfach: Die Behinderung spielt eigentlich keine Rolle. Die Wünsche der behinderten Menschen sind die gleichen wie die nicht behinderter. Die einen möchten gerne noch ein wenig länger arbeiten, die Zweiten wollen einfach Ruhe und die Dritten die wiedergewonnene Freiheit nutzen, um neue Dinge auszuprobieren, und endlich den Hobbys nachgehen, die im Arbeitsleben zu kurz gekommen sind.
Dafür ist der "Marktplatz" geplant worden. Zwei Jahre Erfahrung haben Hans-Dieter Kitzerow und seine Mitarbeiter inzwischen damit. Dass regelmäßig 40 Bewohner kommen und die Mitarbeitenden der Wohngruppen berichten, dass sie viel entspannter zurückkehren, ist die Bestätigung des Konzepts.
Wobei sich nicht jede Erwartung erfüllt hat. Kitzerow hatte gehofft, mehr Ehrenamtliche aus dem Ort begeistern zu können. Sie könnten das Angebot erweitern wie der Hobbykoch aus Sonsbeck. "Der ist begeistert von unserer toll ausgestatteten Küche", sagt Miriam Kools. Mit nicht weniger Begeisterung unterstützen ihn die Bewohner beim Kochen. "Hier benötigen wir wohl noch mehr Zeit", räumt Kools ein. Traditionell gibt es in St. Bernardin viele Beziehungen in die Gemeinde, die Kontaktmöglichkeiten bieten. Das fängt bei der Heißmangel an, die gerne von den Bürgern genutzt und damit auch zur Informationsbörse für die Bewohner wird. Auf dem "Marktplatz" treffen sie sich und hören, was es Neues im Dorf gibt.
"Ich bin zufrieden"
Für die lebendigen Beziehungen mit den nicht behinderten Menschen in der Region ist in der zu den Caritas Wohn- und Werkstätten Niederrhein (CWWN) gehörenden Wohnanlage gerade in den letzten Jahren viel getan worden. Rund um das eher wuchtige alte Backsteingebäude ist ein Park entstanden, eine Minigolfanlage gebaut und zusammen mit dem NABU ein Garten mit Blumen und den verschiedensten Küchenkräutern und Gemüsepflanzen angelegt worden.
Gleich neben dem Kaminzimmer hatten junge Erwachsene aus vielen Nationen im Sommer ihr Kochzelt aufgebaut. Im Rahmen eines internationalen Jugendlagers bauten sie eine Feuerstelle im Park. Für die frisch gebackenen Brötchen bedankten sie sich auf Englisch. "Sprachlich haben sie sich nicht verstanden, aber menschlich sehr gut", sagt Kools. Die Bewohner freuen sich, wenn das Leben zu ihnen kommt, jetzt, wo sie selbst nicht mehr so mobil sind.
Im Kaminzimmer treffen sich die Älteren unter ihnen. Die meisten sind um die 75 Jahre alt. Hier geht es ruhiger zu, gerne wird vor allem mittags der Ruheraum nebenan genutzt, die Sesselplätze sind fest vergeben. Ganz anders sieht es noch in der "Werkhalle" bei den "Jüngeren" aus, die gerade erst in den Ruhestand gegangen sind. Der Name der Räume ist hier durchaus Programm. Hier wird gemalt, werden Teppiche geknüpft, es wird gefilzt oder auch noch produktiv gearbeitet. Aber in aller Ruhe. Peter spaltet dünne Holzplättchen in Stäbchen, seine Kollegin neben ihm bündelt sie zu "Calumets", Naturholzanzündern für den Kaminofen. Er müsste nicht mehr "produktiv" sein, aber viele Bewohner lassen die Werkstattarbeit gerne langsam ausklingen. "Ich bin zufrieden", sagt er und macht auch rundum einen ebensolchen Eindruck.
In der Regel verliert sich der Wunsch zu arbeiten mit 70, hat Miriam Kools beobachtet. Dann können die Besucher der Werkhalle auf die andere Seite ins Kaminzimmer wechseln. Dort sind es neben dem Feuer im Kamin im Winter häufig die kleinen Dinge, die eine gute Atmosphäre schaffen. "Neulich haben wir Wolle zusammen aufgewickelt und dabei von früher erzählt", nennt Miriam Kools ein Beispiel. "Vielfalt leben - Zuhause gestalten" ist das Motto von St. Bernardin - vor vielen Jahren gefunden, "aber immer noch so aktuell wie damals", findet Hans-Dieter Kitzerow. Für die Vielfalt sorgen auch die Zivis, FSJler und Praktikanten, die die festen Mitarbeiter unterstützen.
Es riecht nach Kuchen
Verwaltungstechnisch ist der "Marktplatz" reglementierter. Wenigstens dreimal drei Stunden Tagesstruktur pro Woche gibt der Landschaftsverband Rheinland (LVR) für die Abrechnung vor. Manche Bewohner liegen über dem Soll, andere begnügen sich mit dem Minimum. Für Menschen mit Behinderung, die nicht im Wohnheim leben, sondern außerhalb bei ihren Angehörigen ist die Pflegekasse oder der örtliche Kostenträger zuständig. Sie können auch zum "Marktplatz" kommen. "In Einzelfällen wird dann auch privat gezahlt", erklärt Hans-Dieter Kitzerow.
Weniger zur Finanzierung als zur Bereicherung des Lebens auf dem "Marktplatz" trägt die Runde um den großen Tisch heute bei. Holzsterne werden gemeinsam weiß bemalt. Damit sollen die Räume weihnachtlich geschmückt und Angehörige beschenkt werden. Und danach gibt es eine Tasse Kaffee und den am Morgen frisch gebackenen Kuchen, der schon die ganze Zeit so gut riecht.