Soziale Arbeit im Wandel
Auch deutsche Automobilkonzerne oder die Schweizer Uhrenindustrie dachten nicht, dass sie vor amerikanischen Suchmaschinen-Programmierern und taiwanesischen Telefonbauern zittern müssten. Heute stellen Firmen wie Google, Apple oder Samsung etablierte Geschäftsmodelle ganzer Branchen auf den Kopf.
Was bewegt die Digitalisierung?
Der digitale Wandel lässt keine Ecke aus: von der Arbeit über Freizeit und Konsum bis hin zu sozialen Beziehungen. Seine Treiber sind technische Innovationen. Das Tempo, in dem sie sich durchsetzen, wächst rasant. Hat das Telefon noch 70 Jahre gebraucht, um 50 Millionen Nutzer zu erreichen, waren es beim Internet vier Jahre und bei Pokémon GO ganze zehn Tage.
Neue Technologien sind zudem in der Lage, menschliche Denk- und Kommunikationsleistungen zu übernehmen. Sie sammeln und bewerten eigenständig Informationen und treffen Entscheidungen. Dabei optimieren sie ihre Handlungsstrategien autonom. Mit der klassischen "EDV", wie wir sie kennen, haben sie nichts mehr gemein. Denn herkömmliche Computer verarbeiten lediglich die von Menschen eingegebenen Daten nach exakt programmierten Regeln und geben sie am Bildschirm oder Drucker aus.
Wie bewegt Digitalisierung die Caritas?
Viele Praktiker verstehen unter Digitalisierung noch die Nutzung von Office- oder Fachsoftware anstelle von Papier oder Telefon. Doch das ist klassische "EDV" nach dem oben genannten Input-Output-Prinzip. Bei neueren Technologien herrscht oft die Meinung, dass man bestenfalls am Rande betroffen sei.
Folgende Gegenüberstellung von Merkmalen klassischer IT und neuer digitaler Technologien zeigt Unterschiede und Potenziale (vgl. Schöttler, R., 2016: Innovation in der Sozialwirtschaft. Unveröff. Vortragsmanuskript, FINSOZ-Mitgliederversammlung, 10/2016):
Klassische Informationstechnologie
- unterstützt bereits existierende Hilfeprozesse punktuell, etwa bei der Koordination von Terminen, der Dokumentation von Kontakten oder Leistungsabrechnung,
- bewegt sich innerhalb vorhandener Hilfeformen und Prozesse,
- arbeitet mit herkömmlichen Datentypen wie Text und Zahlen und
- wird nicht im direkten Klienten-Kontakt genutzt.
Die neuen Technologien, die sich hinter Schlagworten wie Robotik, künstliche Intelligenz (KI) oder Internet der Dinge (IoT) verstecken,
- gestalten neue Hilfeprozesse, indem bislang menschliche Tätigkeiten wie haushaltsnahe Dienstleistungen, Diagnostik oder Teile von Beratung von Maschinen übernommen werden,
- ermöglichen die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle, etwa im betreuten Wohnen, in der Beratung oder Arbeitsassistenz,
- arbeiten mit neuen Datentypen wie Audio- oder Bildinformation, die sie aus ihrer menschlichen Umgebung gewinnen, etwa durch Sturzdetektoren oder Sensoren in Kleidung, Brille, Uhr usw.,
- werden im direkten Klientenkontakt eingesetzt, etwa in Web-Portalen, Smartphone-Apps oder Servicerobotern.
Viele dieser Technologien sind aufgrund ihrer einfachen Bedienbarkeit gleichermaßen für Menschen mit und ohne Hilfebedarf geeignet. Sie sind damit auch konsequent vom Makel der Hilfsbedürftigkeit befreit. Smartphone, Smartwatch, Tablet sind nur der Anfang. Digitale Assistenten, die mündliche Bestellungen entgegennehmen sowie Heizung und Licht regeln, sind der aktuelle Trend, und sprechende Haushaltsgeräte, intelligente Brillen oder Kleidungsstücke werden folgen.
"Telefonieren tu ich nur mit alten Leuten"
Diese Aussage eines 14-Jährigen (Süddeutsche Zeitung, Ausgabe 4./5. 3. 2017, S. 10) zeigt: Technik-Nutzung verändert Verhalten: Sich-Informieren, Kommunizieren, Einkaufen und andere Tätigkeiten wandeln sich massiv. Dass insbesondere die jüngere Generation von der permanenten Präsenz virtueller Welten geprägt ist, sollte auch die Caritas interessieren. Denn wenn sie weiterhin "nah am Menschen" sein will, so muss sie zur Kenntnis nehmen, dass sich in vielen Köpfen eine virtuelle Welt etabliert hat, die oft präsenter ist als die physische Realität. Und wer seine Angebote nicht (auch) in dieser Sphäre platziert, wird nicht mehr wahrgenommen.
Wie können Dienste der Caritas also Anschluss an den digitalen Wandel finden und diesen Prozess aktiv gestalten?
Der Klientenzugang wird digital
Ob wir eine Reise buchen, Musik hören oder Freunde suchen: Internet-Portale sind die zentrale Anlaufstelle. Immer mehr werden sie es auch für die Suche nach sozialen Dienstleistungen. Internationale Konzerne haben dies längst erkannt und bieten Plattformen an, die solche Dienste vermitteln. Das Unternehmen care.com beispielsweise hat bereits über 26 Millionen Mitglieder in 20 Ländern, und sein deutscher Ableger betreut.de führt mit wenigen Klicks zu einem Angebot - Sternchen-Bewertung inklusive. Senioren- und Kinderbetreuung stehen bunt bebildert gleich neben Gartenpflege und Haustierservice. Eben alles, was der Mensch so braucht - ohne den fahlen Geschmack von Hilfsbedürftigkeit oder Fürsorge, ohne Rücksicht auf eingeschliffene Zuständigkeiten und normierte Leistungsansprüche. Einrichtungen der Caritas "glänzen" dagegen oft noch mit unübersichtlichen, nicht mobilfähigen Websites, sind nicht auf Facebook präsent und wissen nicht, dass sie von ihren Klienten auf Plattformen wie werpflegtwie.de schonungslos bewertet werden.
Genau hier ist der erste Ansatzpunkt: Es gilt, herauszufinden, in welchen medialen Welten sich Klienten, Angehörige und Zuweiser bewegen und wie die eigene Präsenz dort forciert werden kann. Doch Digitalisierung beginnt im Kopf, nicht in der Steckdose: Wir müssen uns - zumindest in weiten Bereichen - davon verabschieden, besser als unsere Klienten zu wissen, was für sie gut ist. Mindestens ergänzend zu ausgefeilten Fachkonzepten ist eine radikal kundenfokussierte Konfiguration unserer Dienstleistungen gefragt. Das beginnt schon bei den Öffnungszeiten: Welcher Dienst ist erreichbar, wenn in der Familie abends oder am Wochenende über soziale Probleme gesprochen wird? Kann gleich online ein Beratungstermin gebucht werden? Steht eine Chat-Hotline zur Verfügung?
Digitale Beratung und Therapie
Man muss nicht gleich den Beratungsroboter bemühen, um hier über Digitalisierung nachzudenken. Auch wenn es in den USA schon Chatbots, also Software-Roboter, auf verhaltenstherapeutischer Basis gibt und Woebot (woebot.io) verspricht: "No couches, no meds, no childhood stuff. Just strategies to improve your mood."
Naheliegender erscheinen zunächst einfachere Formen der digitalen Unterstützung. Die hohe Verbreitung von Smartphones in nahezu allen Bevölkerungs- und Altersgruppen drängt es förmlich auf, Präsenzberatung durch datengeschützte, mit der Fachsoftware der Einrichtungen gekoppelte Apps zu ergänzen: Beratungstermine werden auf das Smartphone übertragen und erinnern den Klienten rechtzeitig daran. Aufgaben, die vom Klienten bis zum nächsten Termin angegangen werden sollen, werden gemeinsam notiert und erscheinen ebenfalls in der App. Auch kann sie einen geschützten Chat-Kanal anbieten, über den der Kontakt zwischen den Beratungsterminen gehalten werden kann. Und warum sollen Angehörige nicht auf einer App in Echtzeit sehen, ob der Pflegedienst heute schon bei der Mutter war und alles in Ordnung ist?
Fazit
Dieser Beitrag sollte deutlich machen, dass es ein "Weiter wie bisher, garniert mit etwas neuer Technik", nicht geben wird. Die Arbeit der Caritas wird sich grundlegend wandeln müssen. Wenn sie sich nicht an die medialen Veränderungen anpasst, werden andere ihren Job übernehmen. Noch haben wir die Chance, den Wandel mitzugestalten. Vor allem kleinere Orts- und Kreisverbände oder Einrichtungen sind mit der Gestaltung dieses Wandels überfordert. Hier sind die Diözesanverbände und der Bundesverband gefragt. Doch es gilt auch, die Politik in die Pflicht zu nehmen: Sie muss den digitalen Wandel nicht nur in der Wirtschaft fördern, sondern auch im Bereich der sozialen Dienstleistungen.
Helmut Kreidenweis
Professor für Sozialinformatik an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, Vorstandsmitglied von FINSOZ e. V. und Inhaber der Beratungsfirma KI-Consult, Augsburg
Tipp zum Weiterlesen finden Sie in den Medientipps auf Seite 48 der Zeitschrift. Die Zeitschrift kann hier als PDF-Dokument heruntergeladen werden.
Der Fachverband für IT in Sozialwirtschaft und Sozialverwaltung - FINSOZ e. V. hat 2017 ein Positionspapier zur Digitalisierung der Sozialwirtschaft in aktualisierter Auflage erstellt. Es steht zum kostenlosen Download bereit.
Durch die Digitalisierung erleben wir die Entgrenzung von Sozialräumen. Wir müssen deshalb Antworten auf die Frage finden, was wir beispielsweise mit Klienten aus Bayern machen, die eine digitale Beratung bei uns hier am Niederrhein in Anspruch nehmen möchten. An diesem Punkt passt die historisch gewachsene Systematik der Refinanzierung sozialer Leistungen durch die Kommunen und Kreise vor Ort nicht mehr in die Lebenswirklichkeit.
Die Politik - sowohl auf Landes- wie auch auf Bundesebene - hat die Digitalisierung als Trendthema zwar erkannt, springt hier aber deutlich zu kurz. Wir brauchen eine Art digitalen Masterplan, der im sozialen Bereich neue Lösungen ermöglicht. Wenn wir nicht schnell die Voraussetzungen schaffen, dass die Menschen digitale Zugangswege zu sozialen Dienstleistungen erhalten, dann werden mehr Menschen durch das soziale Netz unserer Gesellschaft fallen, als wir es uns heute vorstellen.
Karl Döring
Vorstand des Caritasverbandes Geldern-Kevelaer