Ich muss nicht mehr in den Kasten
Frau S., lange Zeit im SGB-II-Bezug und nun Mitarbeiterin unseres Caritasverbandes, wird von einem Gast der Einrichtung gefragt, was das Schönste an ihrer neuen beruflichen Situation sei. "Ich muss nicht mehr in den Kasten", antwortet sie prompt, "ich kann jetzt dran vorbeigehen." Der "Kasten" - das ist das Gebäude des Jobcenters.
"Ich wollte, ich wäre auch so weit", ergänzt daraufhin Herr W. "Aber mit meinem 450-Euro-Vertrag bin ich immer noch Kunde - und will es nicht sein."
So wie Herrn W. geht es vielen Menschen in Deutschland. Der DGB legte Zahlen vor, nach denen im Juli 2012 von knapp 4,5 Millionen Hartz-IV-Empfängern im erwerbsfähigen Alter "nur" zwei Millionen Menschen arbeitslos waren. Für die anderen, also immerhin die Mehrzahl, blieb der Gang zum Jobcenter notwendig, weil sie mit ihrer Arbeit nicht ihr Existenzminimum verdienen konnten. Unter diesen Hartz-IV-Aufstockern sind 350000 Menschen, die in Vollzeit arbeiten.
Aus der Perspektive des DGB bietet der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn in Höhe von zunächst 8,50 Euro die Möglichkeit, dass sich die Lebenssituation vieler Menschen verbessern kann.
Im Jahreswirtschaftsbericht 2014 der Bundesregierung, vor einigen Wochen vorgelegt, führt Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) aus: "Die Bundesregierung will deshalb die Rahmenbedingungen für sichere und gute Arbeit mit einer fairen Bezahlung und für eine starke Sozialpartnerschaft von Arbeitgebern und Gewerkschaften anpassen. Mit einem allgemein verbindlichen gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro brutto je Zeitstunde soll ein angemessener Mindestschutz überall in Deutschland sichergestellt werden. Gute Arbeit muss sich ... lohnen und existenzsichernd sein."
Als Anwalt gerade für Menschen in sozial prekären Situationen reiht sich die Caritas ein in die große Gruppe derer, die einen gerechten Lohn für alle Menschen fordern. Einen Lohn, von dem sie auch leben und für ihr Alter vorsorgen können.
Es ist uns vertraut, diese Position als Anwalt für Menschen zu formulieren und zu entfalten. Bedeutsamer aber ist die Frage: Können wir diese Anwaltsposition auch als sozialer Dienstleister halten? Entspricht das tarifpolitische Handeln unseres Verbandes unseren gesellschaftspolitischen Forderungen?
Zunächst einmal: Es fällt nicht schwer, unsere Vergütung nach AVR (Arbeitsvertragsrichtlinien, das Tarifwerk der deutschen Caritas, die Red.) zu vergleichen mit den schwarzen Schafen auf dem Feld der sozialen Arbeit. Wir, die Caritas in Soest, stehen bei der Vergabe von Maßnahmen unseres Jobcenters im Wettbewerb mit Vereinen, die ihren ausgebildeten Sozialarbeitern für eine Vollzeitstelle 1500 Euro im Monat zahlen - brutto.
Die Konsequenzen dieser Verwerfungen im System der sozialen Arbeit liegen auf der Hand:
Es ist klar, dass unser Verband wie viele andere Träger gegen solche Anbieter keine Chance hat. Zumindest dann, wenn das Jobcenter diese ruinösen Entgelte akzeptiert und seine Vergabepraxis an dem Grundsatz ausrichtet: Wir sparen. Egal, was es kostet.
Es ist ebenfalls klar, dass unser Verband, falls er den Zuschlag für eine Maßnahme des Jobcenters oder der Arbeitsagentur erhält, seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nur einen befristeten Arbeitsvertrag anbieten kann. Denn: Spätestens nach sechs Monaten erfolgt die nächste Ausschreibung mit unklarem Ausgang.
Und ebenso klar ist es, dass ein Sozialarbeiter mit einem Monatsgehalt von 1500 Euro brutto - als Alleinverdiener mit Familie - zu den Hartz-IV-Aufstockern zählt.
Es ist leicht, sich von solchen Vereinen und Praktiken abzugrenzen. Und ebenso kann sich der Caritasverband als Arbeitgeber selbstbewusst vergleichen mit anderen Wohlfahrtsverbänden und deren mit Gewerkschaften ausgehandelten Tarifverträgen: Unsere Vergütungsstruktur liegt in der Regel deutlich über denen der AWO oder des DPWV. Es würde den Gewerkschaftsvertretern kein Zacken aus ihrer Krone brechen, wenn sie dies anerkennend zur Kenntnis nehmen würden.
Zur Klärung der eigenen Position im Problemfeld "Arm trotz Arbeit" gehört allerdings ebenso festzustellen: Auch in unserem Verband bieten wir Arbeitsverträge an, die manche Mitarbeiter nicht von dem für sie oft belastenden Gang zum Jobcenter befreien. Auch bei uns gibt es Tätigkeiten, die aufgrund der schlechten Rahmenbedingungen - der Konkurrenzsituation mit anderen Anbietern oder der miserablen Refinanzierung durch öffentliche Träger - nur eine nicht zufriedenstellende Vergütung zulassen.
Wenn wir die Vergütung in unserem Ortsverband an der im Jahreswirtschaftsbericht 2014 vom SPD-Wirtschaftsminister vorgegebenen Messlatte orientieren, dann wären wir problemlos "aus dem Schneider": Unser niedrigster Stundenlohn liegt derzeit bei 8,56 Euro. In unseren regelmäßigen Mitarbeiterbefragungen erhalten wir die Rückmeldung, dass eine nicht geringe Zahl von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit dieser Vergütung zufrieden ist, selbst wenn sie im Zusammenhang mit einem GfB-Vertrag (GfB = Geringfügig Beschäftigte, auch 450-Euro-Job, die Red.) gezahlt wird: nämlich in der Regel dann, wenn es sich um einen Minijob on top handelt - als Ergänzung zu einer Teilzeitbeschäftigung bei einem anderen Träger oder zur Altersrente.
Für jene Mitarbeiter jedoch, für die dies die derzeit einzige Form der entlohnten Beschäftigung ist, kann die Situation nur unbefriedigend sein: Sie bleiben Hartz-IV-Aufstocker, sie müssen weiterhin "in den Kasten".
Allerdings wissen sie auch: Dies gilt nicht für immer. Denn auch und gerade für sie gilt unser Angebot der Personalentwicklung. Auch sie wissen, dass wir gemeinsam mit ihnen nach Lösungen suchen, ihre Arbeitsmöglichkeiten auszuweiten in andere Tarifgruppen und mit einem höheren Stundenumfang.
Wenn ich die Arbeitskarrieren unserer Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen betrachte, dann kann ich feststellen: Nicht wenige von ihnen haben in einer Qualifizierungsmaßnahme begonnen, in der Regel in einer "Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung". Sie haben unsere Qualifikationsangebote genutzt, die gleichermaßen von hoher Fachlichkeit und großer Menschlichkeit geprägt sind. Sie haben Erfahrungen gemacht, die eine Frau in dem Satz zusammengefasst hat: "Ich habe in der Caritas gelernt, wie stark ich bin." Und sie prägen heute das Gesicht unseres Verbandes als hauptberufliche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in einer unbefristeten Vollzeitstelle.
Zusammenfassend: Trotz aller Eindeutigkeit in den politischen Forderungen beschäftigt auch unser Caritasverband Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, für die der Satz "Arm trotz Arbeit" "noch" gilt. Gleichzeitig bietet wir ihnen - nicht immer, aber sehr häufig - eine berufliche Aufstiegsperspektive an: Sie sollen "am Kasten vorbeigehen können".