Sexuell völlig verunsichert
Die Herausforderung ist schnell zusammengefasst: Etwa 140 Kinder, Jugendliche und junge Männer leben in den unterschiedlichen Wohnbereichen des Alexianer Martinistifts. Manchmal in externen Gemeinschaften, zumeist aber in der zentralen Einrichtung ein gutes Stück entfernt vom münsterländischen Ort Nottuln. Sie sind wegen unterschiedlicher Verhaltensauffälligkeiten hier, können im familiären Kontext nicht mehr leben. Was viele eint: Sexualität hatte in ihren Familien oft mit Gewalt und Grenzüberschreitungen zu tun. Nicht wenige haben das irgendwann in ihre Vorstellungen und Verhaltensweisen übernommen.
"Völlige Verunsicherung": So beschreibt Dorothea Greiff die Gefühlswelt der 14- bis 20-Jährigen. "Sie haben ihre Situation zwar intensiv therapeutisch aufgearbeitet, doch der Schritt zu einer gelingenden Sexualität bleibt trotzdem riesengroß für sie." Es fehlt ihnen an vorgelebten Modellen in der Familie, an Kommunikation darüber, Emotionalität ist ohnehin eine bleibende Herausforderung, sagt die Bereichsleiterin einiger Wohngruppen im Martinistift. Der Einfluss moderner Medien tut ein Übriges: "Das Bild vom Sex ist oft geprägt von Porno-Darstellungen in den sozialen Netzwerken."
Da kommt es durchaus auch vor, dass die jungen Männer völlig überfordert resignieren, sagt Greiff und erzählt von einem 18-Jährigen, der bei seinem Einzug sagte: "Mit Sex will ich nix mehr zu tun haben." Seine Erfahrungen in der Familie waren extrem verletzend gewesen, er selbst war übergriffig geworden. "Eine solche Aussage ist natürlich eine Katastrophe", sagt Greiff. "Denn jeder weiß, dass das so nicht gelingen kann." Er wie alle anderen Bewohner im Martinistift sind mittendrin in der körperlichen Entwicklung - da führt kein Weg vorbei an der Sexualität. "Alles andere wäre schlimm, weil verdrängend."
Ein Stück außerhalb von Nottuln liegt das St. Martini-Stift der Alexianer.Foto: Michael Bönte | Caritas für das Bistum Münster
Die Situation in den Wohnbereichen bringt weitere Herausforderungen. "Der Kontakt zu jungen Menschen außerhalb ist reduziert", sagt Caroline Roling. "Damit reduziert sich auch ein wichtiges Lernfeld." Die Pädagogin kennt die Nöte der Bewohner ihrer Gruppe, wenn es dann doch einmal zu Situationen von Zuneigung und Nähe kommt, etwa in der Schule oder im Sportverein. "Was soll ich jetzt machen?", ist eine Frage, die sie häufig hört. Zudem erlebt sie nicht selten völlig falsche Einschätzungen der Situation. "Sie sind manchmal überzeugt, dass sie eine Freundin haben, obwohl sie mit dem Mädchen nur einmal in der Woche an der Bushaltestelle Small Talk halten."
Nähe und Distanz üben
Neben der grundlegenden Sexualaufklärung, die es bei vielen zuvor nicht gegeben hat, geht es in den Wohngruppen deshalb auch darum, soziale Lernfelder in Sachen Liebe zu schaffen. Es gibt deswegen nicht nur regelmäßige therapeutische Angebote wie das Format "Let’s talk about sex" oder Aufklärungsunterricht. Es wird auch das gezielte Erleben von Nähe und Zweisamkeit in den Blick genommen.
Ein angemessenes Nähe-und-Distanz-Verhalten wird im Rollenspiel eingeübt. Benedikt Lohmann ist Leiter einer Wohngruppe mit Jugendlichen, die auch kognitiv beeinträchtigt sind. "Da üben wir das Gespräch, finden heraus, wie viel Nähe in Ordnung ist und welche Signale wie gedeutet werden können." Auch gibt es Partys, bei denen die Gruppen mit gleichaltrigen Mädchen in Kontakt kommen. Die Blicke, die seine Jungs ihm dann von der Tanzfläche zuwerfen, sprechen manchmal Bände, sagt er: "Mache ich hier alles richtig?"
Für den Bereich der externen Wohngruppen gelten zum Teil andere Regeln. So ist es durchaus erlaubt, dass Freundinnen dort übernachten dürfen. Allerdings nur unter Voraussetzungen, erklärt Dennis Gläser. Er ist Mitarbeitender einer Außenwohngruppe mit 15- bis 23-Jährigen. "Es ist uns wichtig, dass wir die jungen Frauen vorher kennenlernen." Meist vergehen einige Monate, bis es die Erlaubnis gibt. In der Regel nehmen die Pädagogen auch Kontakt zu den Eltern des Gastes auf. "Wir treffen uns zum Gespräch, um Vorurteile und Sorgen zu nehmen."
Der heilige Martin als Beschützer und Fürsorger: In der Einrichtung leben junge Männer, die in ihren Familien oft Gewalt und Vernachlässigung erlebt haben.Foto: Michael Bönte | Caritas für das Bistum Münster
Was wie Bevormundung aussieht, wird von den Bewohnern nicht so wahrgenommen. "Sie empfinden es als Wertschätzung, wenn wir der Situation so viel Aufmerksamkeit geben." Natürlich gibt es auch Entwicklungen, bei denen sie intensiver eingreifen müssen. Wenn sie den Rahmen der Regeln verlassen, wird interveniert. "Das gelingt dann aber besonders gut, wenn die Sexualität zuvor als wertvolles und wichtiges Gut behandelt wurde."
Regeln dankbar angenommen
Die Regeln für die Sexualität im Martinistift und in seinen Außenwohngruppen sind klar formuliert. "Sex geschieht nicht mit Betreuungspersonen!", heißt eine. "Nicht gegen den Willen des anderen!" oder "Nicht in der Öffentlichkeit!" sind weitere. "Das sind wichtige Rahmenbedingungen und Gesetze", sagt Greiff. "Denn natürlich gibt es auch hier auf dem Gelände Gefühle für andere." Sie erlebt, dass diese Tabus von den jungen Bewohnern oft dankbar angenommen werden. "Als ein Gerüst, das ihnen hilft, sich in einem sie herausfordernden Bereich sicher zu bewegen, ohne grenzverletzend zu werden." Liebe, Zärtlichkeit und Sex - so kann wieder die Tür in das Leben der jungen Bewohner geöffnet werden, um aus dem Verbotenen, Verdrängten und Verletzenden herauszukommen.
Dass das gelingen kann, erleben die Pädagoginnen und Pädagogen immer wieder. Der junge Mann, der vom Sex nichts mehr wissen wollte, verliebte sich dann doch irgendwann. In ein Mädchen, das zu Besuch in die Wohngruppe kam. Mittlerweile haben sie eine Familie gegründet und führen ein geregeltes Leben. Wenn es in der Beziehung doch einmal zu Spannungen kommt, ruft er auch mal seine alte Gruppenleiterin an, um sich Rat zu holen. Das sichere Gerüst für den Umgang mit seinen Gefühlen hat er in ihrer Wohngruppe gelernt. Und er lehnt sich immer noch gern daran an.
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