Jeder Mensch braucht ein Zuhause
Schreibtisch, Kleiderständer, ein paar Apfelsinenkisten als Regal - ein typisches Studentenzimmer ist da vor einer rauen Hauswand aufgebaut. Verwundert schaut die vorbeilaufende Passantin auf die Studentin im Freien. Ihr Zuhause ist draußen, ist öffentlich, ist ungeschützt.
Eines von drei Plakaten der Caritas zu einem Problem, das nicht nur Studenten betrifft, sondern auch die Familie mit Kindern, den armen Rentner und viel mehr Menschen. Die Plakate der Caritas inszenieren den Gegensatz zwischen dem privaten Schutzraum und der Öffentlichkeit.
"Jeder Mensch braucht ein Zuhause! Und zwar ein eigenes Zuhause. Man sagt ja so: My home is my castle. Mein Zuhause ist meine Burg. Man muss sich geborgen fühlen. Ich muss irgendwo in meine eigenen vier Wände reingehen können, die Tür zumachen können und mich abschotten können von allem. Aber gleichzeitig möchte ich auch Leute einladen können in mein Reich, um zu zeigen: Das ist MEIN Reich. Hier bin ICH zu Hause."
So formuliert es Gerhard Steinberg (40), seit zwei Jahren vergeblich auf Wohnungssuche (siehe unten).
Die Wohnungsfrage ist zurück auf der politischen Agenda. Bezahlbare Wohnungen haben sich in allzu vielen Städten mehr und mehr zu einem knappen Gut entwickelt. Das Problem betrifft nicht mehr nur einzelne Personengruppen wie Studenten in Uninähe und angesagten Szenevierteln oder Geringverdiener in Innenstadtvierteln von Ballungsräumen. Es suchen längst auch Normal- und sogar Gutverdiener, Familien mit Kindern und Senioren, Handwerker und Akademiker, Angestellte oder Freiberufler in Klein- und Großstädten. Hier schlägt sich nieder, dass die Bevölkerung entgegen allen Prognosen gewachsen ist, dass es mehr Menschen in die Ballungsräume zieht und dort auch mehr Single-Wohnungen gebraucht werden. "Wohnraummangel ist kein quantitatives flächendeckendes Problem, denn wir haben eigentlich genügend Wohnungen", sagt Professorin Hildegard Schröteler-von Brand, Stadtplanerin an der Universität Siegen. Aber es gebe unterschiedliche Wohnungsteilmärkte, unterschiedliche Preiskategorien und "vor allem zu wenig bezahlbare Wohnungen".
Sichtbar wird das Problem der Wohnungsnot zuallererst bei der Zahl der Obdachlosen, die auf der Straße leben. 52000 sind es bundesweit nach den neusten Zahlen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW). Deutlich größer ist die Zahl der Wohnungslosen. Das sind diejenigen, die keine eigene Wohnung haben, aber noch irgendwo untergekommen sind, beispielsweise in Notunterkünften oder bei Bekannten. Diese Zahl explodierte von 2014 bis 2016 auf 860000 Menschen, eine Zunahme von 150 Prozent oder mehr als 500000. Das ist auch auf die vielen Flüchtlinge zurückzuführen, die seit 2015 vermehrt mit Geringverdienern und Hartz-IV-Empfängern um billige Wohnungen konkurrieren.
Wenn in attraktiven und wirtschaftlich dynamischen Städten die Nachfrage nach Wohnraum steigt, steigen umgehend auch die Preise bei Wohnungen und für Baugrundstücke. Bis zu tausend Euro oder mehr kostet der Quadratmeter Baugrundstück beispielsweise in Köln oder Düsseldorf. Die Städte haben zwar die Möglichkeit, über das Planungsrecht Grundstücke günstiger zu erschließen, doch auch sie bekommen oft nicht genügend Flächen. "Man hat in den Jahren, in denen man mit zurückgehender Bevölkerung gerechnet hat, keine entsprechende Bodenvorratspolitik betrieben", kritisiert Schröteler-von Brand. Ein zweiter Grund für die Wohnungsnot sei eine verfehlte Wohnungsbaupolitik. Man habe geglaubt, den gemeinnützigen oder sozialen Wohnungsbau in der früheren Größenordnung nicht mehr zu brauchen, und ihn zugunsten des freien Marktes zurückgefahren, so die Professorin, die auch Planungsgeschichte lehrt (Zahlen für NRW finden Sie hier).
Hohe Mieten sind ein armutstreibender Faktor und verstärken die Spaltung der Gesellschaft
In Zeiten von historischen Niedrigzinsen wird also enorm gebaut, aber aus Renditegründen leider unter Sozialgesichtspunkten oft das Falsche. Dabei muss man nicht einmal an die "Arbeitsnomaden" denken, die in Citylage eine exklusive 30-Quadratmeter-Miniwohnung für ein Heidengeld in Anspruch nehmen. Auch Luxuswohnungen auf den ehemaligen riesigen Zechengeländen im Ruhrgebiet finden Interessenten en masse. Denn es gibt genügend Käufer, die es sich leisten können.
Auch die Verlierer des Immobilienbooms lassen sich identifizieren: Gut eine Million Haushalte in den 77 deutschen Großstädten müssen laut einer aktuellen Studie der Hans-Böckler-Stiftung mehr als die Hälfte ihres Einkommens für die Miete aufwenden. Und bundesweit mehr als 1,3 Millionen Haushalte haben nach Abzug der Mietkosten ein Haushaltseinkommen unterhalb der Hartz-IV-Sätze. "Bei Sozialwissenschaftlern wie bei Immobilienexperten gilt eine Mietbelastungsquote oberhalb von 30 Prozent des Haushaltseinkommens als problematisch, weil dann nur noch relativ wenig Geld zur sonstigen Lebensführung zur Verfügung bleibt, insbesondere bei Menschen mit kleineren Einkommen", schreibt die Hans-Böckler-Stiftung. Natürlich werden auch viele Vermieter bei solchen Einkommensverhältnissen misstrauisch, weil sie zweifeln, ob Mieter sich ihre Wohnung dauerhaft leisten können.
"Die hohen Mieten sind ein eigener armutstreibender Faktor", sagt Stefan Sell, Professor für Volkswirtschaftslehre, Sozialpolitik und Sozialwissenschaften in Koblenz. Steigende Mietbelastungsquoten führen zu einem Verlust an Kaufkraft und erhöhtem Verschuldungsrisiko. Die ärmeren Menschen werden verdrängt, sie sind gezwungen, an die Ränder der Städte zu ziehen, in billigere Quartiere. Dort brauchen sie dann ein Auto, das haben viele nicht. Menschen werden aus Stadtteilen vertrieben, in denen sie ihr ganzes bisheriges Leben zugebracht haben. Sie verlieren ihr gewohntes Umfeld, sie verlieren langjährige Beziehungen. Auch die Stadtteile verändern sich - ihre Identität wandelt sich, eine andere Kultur entsteht: In einer Enklave von Haushalten mit hohem Einkommen greifen vor allem die Werte dieser Menschen. Schon die Prognos-Studie "Wohnraumbedarf in Deutschland" (2017) sieht "Konfliktpotenzial".
Schrottimmobilien und "Problemhäuser" belasten ganze Stadtviertel
Woanders werden die wenigen Sozialbauten, die es noch gibt, von den Stadtverwaltungen immer stringenter mit ärmeren Menschen belegt. Stadtteile werden als Armutsstadtteil abgestempelt. In Schrottimmobilien leben Menschen unter unzumutbaren Bedingungen auf engstem Raum, die sozialen Folgen lassen sich an bundesweit bekannten "Problemhäusern" im Ruhrgebiet beobachten. Wer es sich nur irgend leisten kann, zieht hier weg. Es kommt zu einer Segregation, einer Entmischung der sozialen Schichten. Die hohe Verdichtung von sozial benachteiligten, armutsgefährdeten Menschen, gleichzeitig eine Vernachlässigung bei der Infrastruktur setzen eine Abwärtsspirale in Gang, vor der vorausschauende Städteplaner immer warnen.
Auch an anderer Stelle gelangt der Sozialstaat bei der Versorgung mit Wohnraum an Grenzen seines Funktionierens: Bisher ist es so, dass der Staat die Kosten für Miete und Heizung übernimmt, wenn Menschen Sozialhilfe oder Hartz IV beziehen. Diese sogenannten Kosten der Unterkunft sind gedeckelt, sie variieren nach Größe des Haushaltes und nach Wohnort. Wie viel Geld angemessen ist, legt jede Kommune selbst fest.
Der Sozialwissenschaftler Stefan Sell hat auf der Grundlage von Daten der Bundesagentur für Arbeit ermittelt, dass rund ein Fünftel der Bedarfsgemeinschaften in Wohnungen mit Mieten über der Mietobergrenze wohnten (im April 2017 rund 590000 der ungefähr 3,1 Millionen Haushalte). Die Differenz zwischen den tatsächlichen Mietkosten und den vom Jobcenter übernommenen Kosten der Unterkunft zahlten diese Haushalte aus eigener Tasche, die Summe belief sich auf insgesamt unvorstellbare 594 Millionen Euro. "Das ist besonders krass, wenn man weiß, dass die Regelsätze zum Existenzminimum von Fachleuten seit Jahren als zu niedrig berechnet kritisiert werden", betont Sell. (Auch der Deutsche Caritasverband hält die Regelsatzberechnungen für zu niedrig und kritisiert dies immer wieder öffentlich.)
Es liegt nahe, den Kommunen zu empfehlen, die Mietobergrenzen bei den Kosten der Unterkunft anzuheben. Das mag in etlichen Fällen sogar angebracht sein. Doch die Erfahrung lehrt: "Vermieter nehmen gerne mit, was der Staat zu zahlen bereit ist", weiß Sell. In der Folge steigt der Mietspiegel in den betroffenen Stadtteilen noch schneller als zuvor, worunter dann die Geringverdiener mit Einkommen knapp über der Hartz-IV-Grenze leiden. Und die Konkurrenz um bezahlbare Wohnungen nimmt keineswegs ab.
Nachhaltig helfen würde nur eines: Das Angebot an Sozialwohnungen müsste drastisch ausgeweitet werden. Das geht nur, indem sehr viel mehr Sozialwohnungen gebaut werden dort, wo dieser Wohnraummangel herrscht. Früher hat der Staat mit vergünstigten Krediten Anreize gegeben, um Investoren zu gewinnen. In Zeiten des Niedrigzinses funktioniert das nicht gut. Bei hohen Bodenpreisen und teuren Baukosten wollen Investoren zudem hohe Mieten erwirtschaften, um die nötige Rendite zu erzielen. Man müsste den sozialen Wohnungsbau bezahlbar halten, um die Mieten niedrig zu halten. Das könnte aber auch bedeuten, dass zahlreiche Vorschriften bei den Baustandards - zum Beispiel Auflagen bei Barrierefreiheit oder Energieeffizienz - geschleift werden. Die treiben bislang die Baukosten deutlich in die Höhe. Doch würde man jetzt an den Standards sparen, würden die Probleme über steigende Energiekosten in ein paar Jahren auf die Mieter zurückschlagen. "Einen großen Sprung auf der Angebotsseite wird man nicht umsonst bekommen", prognostiziert deswegen auch der Volkswirt Sell.
Eine aktive Wohnungsbaupolitik erfordere erhebliche finanzielle Investitionen des Landes, sagt auch Schröteler-von Brand mit Blick auf NRW. Gleichzeitig müssten die Kommunen eine bessere Bodenvorratspolitik betreiben. Teilweise hätten die Städte zuletzt Wohnungsbaufördermittel nicht abgerufen, weil sie sie nicht umsetzen konnten auf entsprechenden Flächen. "Es ist jahrelang nichts gemacht worden, jetzt ist natürlich der Druck umso höher. Aber Wohnungsbaupolitik ist etwas Langfristiges, das geht nicht von heute auf morgen, und deswegen werden wir auch noch eine Zeit lang dieses Problem haben", sagt die Stadtplanerin.
Markus Lahrmann
Zuhause
"Eine Wohnung (althochdeutsch wonên: "zufrieden sein", "wohnen", "sein", "bleiben") ist die Zusammenfassung einer Mehrheit von Räumen, die in ihrer Gesamtheit so beschaffen sein müssen, dass die Führung eines selbständigen Haushalts möglich ist. Die Zusammenfassung einer Mehrheit von Räumen muss eine von anderen Wohnungen oder Räumen, insbesondere Wohnräumen, baulich getrennte, in sich abgeschlossene Wohneinheit bilden und einen selbständigen Zugang haben. Außerdem ist erforderlich, dass die für die Führung eines selbständigen Haushalts notwendigen Nebenräume (Küche, Bad oder Dusche, Toilette) vorhanden sind. Die Wohnfläche muss mindestens 23 Quadratmeter (m2) betragen."
Wikipedia
Aktionsidee
Zimmer auf der Straße
Die Aktion wird dezentral vor Ort umgesetzt. Eine Handreichung mit konkreten Umsetzungsvorschlägen sowie Druckvorlagen für Plakate und Flyer unter www.caritas.de/straßenzimmer
Auf Wohnungssuche
Die meisten wiegeln erst mal ab
Entweder im Internet oder in Tages- oder Wochenzeitungen suche ich mir die passenden Wohnungen raus, passende Größe und so, und bewerbe mich darauf. Meistens hab ich halt Pech. Das liegt daran, die Adresse vom Carl-Sonnenschein-Haus ist verpönt hier in Oberhausen: Wenn schon jemand hört: "Bebelstraße 205", wird meistens sofort abgelehnt, oder man bekommt gesagt: "… ist zwischenzeitlich vergeben".
Ich hätte fast eine Wohnung bekommen, hier in der Oberhausener Innenstadt. "Als Mieter bin ich solvent, als Privatperson insolvent", das hatte ich ganz offen gesagt und wurde trotzdem zur Besichtigung eingeladen. Diese kleine Eineinhalb-Zimmer-Wohnung hätte mir gereicht, die hätte das Jobcenter auch übernommen. Gut, beim Jobcenter dauert das schon relativ lange: Bis ich einen Termin hatte und bis die Wohnung genehmigt war, hat es drei Wochen gedauert. Die haben aber auf mich gewartet, den Mietvertrag zugeschickt, und ich sollte am 1. Juli einziehen können. Ich hatte den Vertrag im Februar schon unterschrieben, weil die Wohnung erst einmal saniert wurde. Und als ich dann Mitte Juni wegen der Schlüsselübergabe angerufen habe, hieß es: "Die Wohnung ist storniert." Es hätten noch Unterlagen gefehlt und man habe mir die Stornierung zugeschickt. Die ist hier nie angekommen.
Jetzt hab ich noch ein zweites Problem, eine neue Wohnung zu finden: Weil ich eine Arbeit habe, werde ich nicht mehr vom Jobcenter bezahlt. Ich muss meine Wohnung jetzt selbst zahlen. Ich bin seit 1. April wieder in Arbeit, allerdings keine Vollzeitstelle, sondern in einer Maßnahme, die heißt "Soziale Teilhabe".
Dadurch bekomme ich keine Hartz-IV-Leistungen mehr vom Jobcenter. Hinzu kommt, dass ich mit über 100000 Euro Schulden in der Privatinsolvenz bin. Und wenn die dann sehen: Nur 916 Euro im Monat und davon noch ’ne Wohnung bezahlen, dann sagen die alle sofort: "Nee, wollen wir nicht." Und dann ist das Thema schon gegessen. Die meisten wiegeln erst mal ab.
Gerhard Steinberg, aufgezeichnet von Christoph Grätz