Wohnungslose Menschen: Unterbringung einer Familie mit Kindern
Oberverwaltungsgericht NRW, Beschluss vom 06.03.2020 - 9 B 187/2
Die Antragstellerinnen, eine insgesamt fünfköpfige Familie, bestehend aus der Mutter und zwei minderjährigen Töchtern im Alter von 10 Jahren und 16 Jahren sowie zwei volljährigen Töchtern, sind nicht in der Lage, sich aus eigenen Kräften mit einer Unterkunft zu versorgen und daher im Rechtssinne obdachlos.
Seit dem Verlust ihrer früheren Wohnung im August 2019 haben sie wiederholt beim Sozialamt der Antragsgegnerin (Stadt) vorgesprochen. Ihnen ist keine (städtische) Obdachlosenunterkunft zugewiesen worden, für deren Benutzung Gebühren nach Maßgabe des Kommunalabgabengesetzes zu erheben wären. Es wurde lediglich - jeweils für einen begrenzten Zeitraum, zuletzt bis zum 9. März 2020 - die Möglichkeit vermittelt, im Hotel X., einer im Sprachgebrauch der Antragsgegnerin sogenannten "gewerblichen OBG-Unterkunft", im eigenen Namen zwei Zimmer von insgesamt 30 qm Größe zzgl. Mitbenutzung von Gemeinschaftsküche und -bad anzumieten. Hierfür stellt das Hotel 26,75 Euro täglich pro Person d. h. für 5 Personen 133,75 Euro pro Tag oder 4.012,50 Euro im Monat in Rechnung.
Das Verwaltungsgericht Köln hatte entschieden, dass die Unterbringung der Familie den rechtlichen Anforderungen genügt. Das Oberverwaltungsgericht verpflichtete die Stadt zur sofortigen Unterbringung in einer menschenwürdigen Unterkunft.
- Das Gericht kann auf Antrag auch schon vor Klageerhebung eine einstweilige Anordnung treffen, soweit eine Regelung eines vorläufigen Zustandes als erforderlich erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden (§ 123 Abs. 1 VwGO). Dies hat der Antragsteller darzulegen und glaubhaft zu machen (§ 123 VwGO, § 920 Abs. 1 und 2, § 294 ZPO).
- Der Unterbringungsanspruch eines Obdachlosen nach § 14 Abs. 1 OBG NRW ist grundsätzlich auf die Unterbringung in einer menschenwürdigen Unterkunft gerichtet, die Schutz vor den Unbilden der Witterung bietet sowie Raum für die notwendigsten Lebensbedürfnisse lässt. Obdachlose müssen im Verhältnis zur Versorgung mit einer Wohnung weitgehende Einschränkungen hinnehmen.
- Ihrer ordnungsrechtlichen Verpflichtung zur Gewährleistung einer menschenwürdigen Unterbringung (ungewollt) obdachloser Personen kann sich eine zur Unterbringung verpflichtete Gemeinde nicht dadurch entziehen, dass sie keine eigenen Obdachlosenunterkünfte vorhält.
- Das im Beschwerdeverfahren von der Antragsgegnerin gemachte Angebot, die Antragstellerin und Mutter mit ihren zwei minderjährigen Töchtern in ein in einem anderen "Hotel" anzumietendes Zimmer von 22 qm zzgl. Bad zu vermitteln, und die volljährigen Töchter in einem der bisher genutzten Zimmer (also auf ca. 15 qm) im Hotel zu belassen, genügt den Anforderungen an eine obdachmäßige Unterkunft nicht. Das für die Antragstellerin und ihre jüngeren Töchter vorgesehene Zimmer ist mit 22 qm für 3 Personen für eine längerfristige Unterbringung eher zu klein. Darüber hinaus bietet es keinerlei Rückzugsmöglichkeiten für die Töchter, etwa zur Anfertigung von Hausaufgaben, oder auch für die Mutter, die gesundheitlich beeinträchtigt ist.
- Anhaltspunkte für einen Anspruch auf eine barrierefreie Unterkunft oder die Notwendigkeit eines eigenen Badezimmers, etwa mit Blick auf eine erhöhte Infektanfälligkeit, bestehen nicht.
- Die beklagte Stadt wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, die Obdachlosigkeit der Antragstellerinnen durch Zuweisung einer geeigneten Unterkunft, zu beseitigen. Es steht in ihrem Ermessen, die fünfköpfige Familie entweder gemeinsam oder die Antragstellerin mit den minderjährigen Töchtern und die zwei volljährigen Töchter getrennt unterzubringen. Dabei müssen jeweils für die Antragstellerin und ihre zwei minderjährigen Töchter getrennte Räume zur Verfügung stehen.
- Die einstweilige Anordnung wird auf einen Zeitraum von zwei Monaten befristet, in denen es Sache der Beteiligten ist, sich nachhaltig um Beschaffung einer Mietwohnung zu bemühen.
Anmerkung: Besondere Beachtung verdient es, dass die einstweilige Verfügung schon vor Klageerhebung beantragt und dadurch kurzfristig eine Entscheidung erreicht werden kann.