Vollstreckungsschutz gegen Zwangsräumung wegen Suizidgefahr
BVerfG, Beschluss vom 29.07.2014 - 2 BvR 1400/14
Der 81-jährige Beschwerdeführer und seine Ehefrau hatten durch Zuschlagsbeschluss im Dezember 2012 das Eigentum an dem von ihnen bewohnten Haus verloren. Der neue Eigentümer verfolgte seine Ansprüche auf Räumung und Herausgabe im Wege der Zwangsvollstreckung.
Das Amtsgericht stellte die Vollstreckung hinsichtlich des Beschwerdeführers bis zum 30. September 2013 ein. Auf die sofortige Beschwerde des Eigentümers holte das Landgericht unter vorläufiger Einstellung der Zwangsvollstreckung ein Sachverständigengutachten ein. Der Sachverständige kam in seinem Gutachten vom 23. Januar 2014 u. a. zu folgenden Ergebnissen:
"Die als hoch zu bewertende Suizidgefahr des [Beschwerdeführers] im Falle einer Räumung kann durch eine vorübergehende Unterbringung nicht zuverlässig abgewendet werden. Einerseits wäre die akute Suizidalität sicher ein Grund für eine Krankenhausaufnahme, bedauerlicherweise lassen sich Suizide in psychiatrischen Krankenhäusern aber nicht zuverlässig verhindern. (...). Die Bestellung eines Betreuers ist im Rahmen einer akuten Suizidalität keine Maßnahme, die einen Suizid verhindern kann. (...). In einer psychiatrisch/psychotherapeutischen Behandlung sehe ich den entscheidenden Einflussfaktor, der es [dem Beschwerdeführer] ermöglichen könnte, einen Weg in der Bewältigung der jüngsten Ereignisse und deren Folgen zu finden. (...). [Der Beschwerdeführer] zeigte sich krankheitseinsichtig (...). Er stimmte der Behandlungsbedürftigkeit seiner seelischen Krise zu und signalisierte glaubhaft eine tragfähige Bereitschaft zur Mitwirkung. (...). Mit Blick auf die Suizidalität und die im Zentrum des Gutachtenauftrag[s] stehenden Fragen erscheint es angemessen, davon auszugehen, dass [der Beschwerdeführer] nach Beginn der ambulanten Psychotherapie zumindest einen Zeitraum von sechs Monaten benötigen wird, um sich eine ausreichende innere Stabilität zu erarbeiten."
Darauf bat das Landgericht mit Schreiben vom 25. März 2014 das Betreuungsgericht um Überprüfung, ob dem Beschwerdeführer ein gesetzlicher Betreuer bestellt und er in Anbetracht der laufenden Zwangsvollstreckung vorübergehend in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht werden solle. Weitere lebensschützende Maßnahmen würden anheimgestellt. Das Betreuungsgericht holte einen Bericht der Betreuungsbehörde ein. Es bat ferner das Ordnungsamt um Prüfung, ob Maßnahmen nach dem hessischen Freiheitsentziehungsgesetz (HFEG) in Betracht kämen. Am 24. April 2014 stellte es das Betreuungsverfahren ein, weil eine Betreuung gemäß § 1896 Abs. 2 BGB nicht erforderlich sei. Überdies lehne der Beschwerdeführer die Bestellung eines Betreuers ab. Gegen den Willen des Betroffenen dürfe keine Betreuung eingerichtet werden.
Darauf wies das Landgericht die sofortige Beschwerde mit Beschluss vom 19. Mai 2014 zurück. Zur Begründung führte es aus, eine akute Suizidgefahr sei zweifelhaft. Im Übrigen habe das Betreuungsgericht als das für den Lebensschutz primär zuständige Gericht keine Veranlassung für die Einrichtung einer Betreuung oder die Ergreifung ergänzender lebensschützender Maßnahmen gesehen. Auf diese Einschätzung dürfe das Vollstreckungsgericht sich verlassen, zumal der Beschwerdeführer selbst die Unterstützung durch einen fachkundigen Betreuer ablehne und sich in der Lage sehe, alle seine Angelegenheiten selbständig zu erledigen.
Das Bundesverfassungsgericht hob die Entscheidung des Landgerichts auf:
- Das grundgesetzliche Recht des Räumungsschuldners auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) verpflichtet das Vollstreckungsgericht, besonders sorgfältig zu prüfen, ob dem Schuldner räumungsfolgenbedingt schwerwiegende Gesundheitsbeeinträchtigungen bis hin zum Suizid drohen.
- Ein Verweis des Vollstreckungsgerichts auf die für den Lebensschutz primär zuständigen Behörden bzw. das zuständige Betreuungsgericht ist allenfalls dann verfassungsrechtlich zulässig, wenn diese entweder effektive Maßnahmen zum Schutz des Betroffenen angeordnet haben oder aber eine erhebliche Suizidgefahr ausgeschlossen werden kann.
- Das Landgericht wird so schnell wie möglich die erforderlichen tatsächlichen Feststellungen für eine abschließende Entscheidung zu treffen haben. Bei der notwendigen Würdigung der Gesamtumstände wird zu berücksichtigen sein, welche Anstrengungen dem laut dem Sachverständigengutachten krankheitseinsichtigen, zur Aufnahme der von dem Gutachter vorgeschlagenen psychotherapeutischen Behandlung bereiten und von seiner Ehefrau und seinem Sohn unterstützten Beschwerdeführer jedenfalls seit Vorliegen des Gutachtens zumutbar waren und sind, um sich einer solchen Behandlung zu unterziehen.
Anmerkung: Es fällt auf, dass immer wieder die zunächst zuständigen Amts- und Landgerichte sich über eindeutige gutachterliche Feststellungen hinwegsetzen und suizidgefährdete Menschen erst beim Bundesverfassungsgericht als der höchsten Instanz zu ihrem Recht kommen.
Zu beachten ist stets, dass eine akute Suizidgefahr die Zwangsräumung nur ausnahmsweise auf Dauer ausschließen kann; denn Vollstreckungsschutz wird - in der Regel befristet - nur gewährt, solange der Räumungsschuldner trotz aller zumutbaren Bemühungen akut suizidgefährdet bleibt (BVerfG, Beschluss vom 27. Juni 2005 - 1 BvR 224/05).
Eine latente Suizidgefährdung schließt nach der Rechtsprechung eine Zwangsräumung nicht aus. Deshalb sollten ärztliche Gutachten, die einem Antrag auf Einstellung der Zwangsvollstreckung beigefügt werden, die eindeutige Diagnose einer akuten Suizidgefahr enthalten.