Schweigepflicht gegenüber Eltern in der pädagogischen Arbeit mit Kindern
Vorrang des Erziehungsrechts des jungen Menschen
In § 8 Abs. 3 SGB VIII hat der Gesetzgeber dem jungen Menschen den Vorrang vor dem Informationsanspruch der Eltern für den Fall bestimmt, dass die Einbeziehung der Eltern eine Förderung gefährden bzw. ausschließen würde. Daraus ergibt sich für Fachkräfte in der Jugendhilfe ein Schweigerecht und eine Schweigepflicht über die Inanspruchnahme und die Inhalte der Beratung junger Menschen.
Der Anspruch auf Vertrauensschutz ist nicht auf Fälle beschränkt, in denen der Minderjährige ausdrücklich um ein Beratungsgespräch bittet. Er besteht beispielsweise auch, wenn ein Kind im Kinderheim der Erzieherin Erlebnisse, Wahrnehmungen, Sympathie und Antipathiegefühle mitteilt und die Gefahr besteht, dass eine Information der Eltern darüber sich nachteilig auf die Erziehung oder Entwicklung des Kindes auswirken könnte.
Beispiel: Ein zehnjähriges Kind teilt der Erzieherin im Rahmen einer Anhörung mit, es leide darunter, dass sein Vater seine Mutter ständig misshandelt.
Beteiligung gemäß dem individuellen Entwicklungsstand
Die gelegentlich vertretene Meinung, bei Kindern unter 14 Jahren bestehe keine Schweigepflicht der Fachkraft gegenüber Eltern, ist gesetzwidrig; denn der Anspruch auf Beratung ohne Kenntnis des Personensorgeberechtigten ist in § 8 Abs. 3 SGB VIII nicht auf Jugendliche (14 bis 18 Jahre alt) beschränkt, sondern ausdrücklich auch Kindern (bis zu 14 Jahren) zuerkannt.
Allerdings haben Fachkräfte Kinder und Jugendliche nur gemäß dem individuellen Entwicklungsstand zu beteiligen, wenn es um deren Erziehung und Entwicklung geht. Eine Beteiligungspflicht besteht deshalb nicht, soweit und solange der Minderjährige nicht beratungsfähig, d. h. nicht in der Lage ist, Problemsituationen darzustellen, ihre Bedeutung zu erkennen und Ratschläge umzusetzen (Einsichtsfähigkeit).
Für den Bereich der Erziehungsberatung wird angenommen, dass bei Jugendlichen Einsichtsfähigkeit in der Regel anzunehmen ist, während bei einem Kind die Fachkraft im Einzelfall abzuschätzen hat, ob die Tragweite einer Handlung/Maßnahme/Entscheidung überblickt wird.
Geht es nicht um Erziehung/Entwicklung, sondern beispielsweise um schwerwiegende medizinische Eingriffe, komplexe technische oder finanzielle Probleme, ist auch bei Jugendlichen eine Abschätzung im Einzelfall vorzunehmen.
Bedeutung des Schweigerechts und der Schweigepflicht für den Erfolg der Beratung
Liegt keine akute Selbst- oder Fremdgefährdung des Kindes/Jugendlichen vor, die ein Handeln der Eltern erfordert, ist bei Beginn und im Verlauf einer Beratung jeweils zu prüfen, ob die Einbeziehung und Information der Eltern die Kooperationsbereitschaft des Minderjährigen einschränken oder ausschließen könnte.
In allen Fällen, in denen Kenntnisse, Erfahrungen, Gefühle des Kindes/Jugendlichen für die Einschätzung seines Beratungs- und Hilfebedarfs von Bedeutung sein könnten, sollte zu Kontaktbeginn klargestellt werden, dass die Eltern ohne seine Einwilligung und ohne sein Wissen nie und nur ausnahmsweise im akuten Notfall ohne seine Einwilligung informiert werden.
Mit dem Kind/Jugendlichen gemeinsam ist deshalb die jeweils erwartbare Reaktion der Eltern zu erörtern; denn der junge Mensch, der befürchtet, dass eine vollständige Problemdarstellung unerwünschte Reaktionen bei den Eltern auslösen kann, wird alle riskanten Informationen zurückhalten. Kann er aber darauf vertrauen, dass die Fachkraft ohne sein Wissen und ohne seine Einwilligung die Eltern nicht informiert, wird seine Bereitschaft zur vorbehaltlosen Information über alle bedeutsamen Umstände, seine Situation und seine Probleme entscheidend gefördert werden. Deshalb kann die Information des jungen Menschen über das Schweigerecht und die Schweigepflicht der Fachkraft, die für die weitere pädagogische Arbeit und wirksame Hilfe erforderliche Vertrauensgrundlage schaffen.1
Anpassung und Weiterentwicklung fachlicher Konzepte
Soweit bisher nicht geschehen, sind in fachlichen Konzepten zur Beratung von Kindern und Jugendlichen die Kriterien und Vorgehensweisen aufzunehmen, ob, wann und wie die Eltern informiert oder einbezogen werden sollen und dürfen.
Eine Verarbeitung personenbezogener Daten, beispielsweise durch schriftliche Aufzeichnung oder Speicherung, ist nur mit Einwilligung des jungen Menschen zulässig. In eine Familienakte/-datei dürfen Daten nicht aufgenommen und verarbeitet werden, die von dem Kind/Jugendlichen der Fachkraft persönlich anvertraut worden sind.
Die Verletzung der Schweigepflicht kann zum Ersatz des materiellen und immateriellen Schadens verpflichten und nach § 203 Strafgesetzbuch strafbar sein.
1 Vertrauensschutz im Kinderschutz - Ein Leitfaden für Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe zur
Beantwortung datenschutzrechtlicher Fragen bei (Verdacht auf) Kindeswohlgefährdung,
Stand 15.02.2022, Seite 80.