Jugendhilferechtliche Eingliederungshilfe: Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung durch Integrationshelferin
Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 18.10.2012 - 5 C 21.11, http://www.bverwg.de
- Ein Anspruch auf Gewährung jugendhilferechtlicher Eingliederungshilfe kann Kindern oder Jugendlichen auch dann zustehen, wenn die Hilfemaßnahme nicht auf die Deckung des Gesamtbedarfs ausgerichtet ist, sondern nur einen Teilbedarf deckt (Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung durch schulische Integrationshelferin).
- Zwar hat der Träger der öffentlichen Jugendhilfe die Kosten der Hilfe grundsätzlich nur dann zu tragen, wenn sie auf der Grundlage seiner Entscheidung nach Maßgabe des Hilfeplans unter Beachtung des Wunsch- und Wahlrechts erbracht wird (§ 36 SGB VIII). Bei der Selbstbeschaffung einer aus fachlichen Gründen abgelehnten bzw. vom Hilfeplan ausgeschlossenen Leistung ist im Hinblick auf § 36a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII aber zu prüfen, ob der vom Jugendamt aufgestellte Hilfeplan (bzw. das Hilfekonzept) verfahrensfehlerfrei zustande gekommen, nicht von sachfremden Erwägungen beeinflusst und fachlich vertretbar ist. Hat das Jugendamt die begehrte Hilfe aus im vorgenannten Sinne vertretbaren Erwägungen abgelehnt, besteht weder ein Anspruch des Betroffenen auf die begehrte Eingliederungshilfeleistung noch auf den Ersatz von Aufwendungen für eine selbst beschaffte Hilfe.
- Hat das Jugendamt nicht rechtzeitig oder nicht in einer den vorgenannten Anforderungen entsprechenden Weise über die begehrte Hilfeleistung entschieden, sind die Kosten der Hilfe vom Träger der Jugendhilfe auch dann zu übernehmen, wenn die Eltern wegen der Ablehnung gezwungen sind, eine eigene Entscheidung über die Geeignetheit und Erforderlichkeit einer Maßnahme zu treffen.
- In diesem Fall prüfen die Verwaltungsgerichte nur das Vorhandensein des jugendhilferechtlichen Bedarfs uneingeschränkt und beschränken sich hinsichtlich der Geeignetheit und Erforderlichkeit der selbst beschafften Hilfe auf eine fachliche Vertretbarkeitskontrolle aus der Sicht der Leistungsberechtigten im Zeitpunkt ihrer Entscheidung. Ist die Entscheidung der Berechtigten in diesem Sinne fachlich vertretbar, sind die Kosten vom Jugendamt auch dann zu erstatten, wenn dieses eine andere Hilfe für geeignet gehalten hätte.
Aus dem Sachverhalt: Der 1999 geborene Kläger verlangt vom beklagten Kreis als Träger der Jugendhilfe den Ersatz der Aufwendungen für eine selbst beschaffte Schulbegleitung im Schuljahr 2008/2009.
Er litt unter anderem an einer Aufmerksamkeitsstörung, einer Störung sozialer Funktionen, einer Sprachstörung, einer kombinierten Störung schulischer Fertigkeiten sowie motorischen Problemen. Er besuchte ab dem Schuljahr 2007/2008 ein Sonderpädagogisches Förderzentrum im Bereich des Beklagten. Dieser gewährte dem Kläger ab November 2007 Eingliederungshilfe durch Übernahme der Kosten einer heilpädagogischen Einzelbehandlung.
Anfang August 2008 beantragte der Kläger die Gewährung von Eingliederungshilfe in Form der Kosten-übernahme für eine Schulbegleiterin. Dem Antrag waren eine Bescheinigung des Kinderzentrums München und eine Stellungnahme des Rektors des Sonderpädagogischen Förderzentrums beigefügt, in welchen der Einsatz eines individuellen Schulbegleiters in der Schule befürwortet wird.
Der Allgemeine Sozialdienst des Jugendamts des Beklagten kam in einer Stellungnahme vom 24. September 2008 zu dem Ergebnis, dass beim Kläger ein Integrationsrisiko in den Bereichen schulische Anpassung, Bewältigung von sozialen Situationen und sozialen Kompetenzen, allgemeine Selbst-ständigkeit und Selbstwertproblematik, soziale Beziehung zu Familienangehörigen und Freizeitaktivitäten bestehe. Der Fachdienst schlug eine Fortführung der heilpädagogischen Einzelförderung mit zusätzlicher Kleingruppenarbeit und gegebenenfalls parallel eine ambulante Psychotherapie oder eine heilpädago-gische Tagesstätte vor.
Der Beklagte lehnte den Antrag des Klägers auf Gewährung einer Schulbegleitung ab. Zwar sei seine Unterstützung im Schulalltag notwendig; hierfür sei aber die Förderschule vorrangig zuständig.
Die Klage des Klägers wurde in zweiter Instanz vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof abgewiesen: Die selbst beschaffte Hilfe eines Schulintegrationshelfers sei fachlich nicht vertretbar gewesen, weil sie nur den schulischen Bereich und die schulischen Probleme des Klägers in den Blick genommen habe, nicht aber seine Beeinträchtigungen in den anderen Lebensbereichen.
Beim Bundesverwaltungsgericht hatte der Kläger Erfolg.
Anmerkung: Die Entscheidung verbessert die Möglichkeiten der Eltern eines hilfebedürftigen Kindes, im Falle der Ablehnung der Hilfe durch das Jugendamt, Erstattung der Kosten der selbstbeschafften Hilfe vom Jugendamt zu erhalten. Das Bundesverwaltungsgericht verlangt lediglich, dass
- die beschaffte und finanzierte Maßnahme aus der damaligen Sicht der Eltern
fachlich vertretbar war und - die vom Jugendamt gewährte sonstige Hilfeleistung - für die Eltern erkennbar -
nicht erheblich beeinträchtigt.
Eltern sollten sich aber zur Vermeidung von Risiken nicht auf ihre subjektive Einschätzung verlassen, sondern diese möglichst durch gutachterliche Stellungnahmen der mit dem konkreten Fall befassten Fachvertreter absichern.
Der Beitrag wurde im Februar 2014 umfangreich aktualisiert und weicht daher inhaltlich von der gedruckten Fassung der Ausgabe 2/2013 (April 2013) des Recht-Informationsdienstes ab.