„Für ein soziales Europa“

Zur Einführung verwies der Münsteraner Diözesan-Caritasdirektor Dominique Hopfenzitz auf die Bedeutung des sozialen Fundaments für ein weiter wachsendes Europa. Er warnte vor Strömungen, die einen Rückzug auf die eigene nationale Identität für erfolgversprechender hielten. Dem sei nicht so.

Paderborns Diözesan-Caritasdirektor Ralf Nolte betonte, dass Europa für ein friedliches Miteinander auf eine funktionierende Zivilgesellschaft angewiesen sei. "Wir wollen leben in einem Europa, in dem Frieden herrscht und in dem Menschenrechte, Demokratie, soziale Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit die höchsten Güter sind", unterstrich Nolte bei dem Talk. Die Caritas in NRW setze sich für ein soziales Europa und gute europäische Regelungen ein. "Sie beide eint die Zuversicht", konstatierte der souveräne Moderator Christoph Tiegel, "dass ein sozial gerechteres Europa nicht nur nötig, sondern auch möglich ist".

Soziale Gerechtigkeit und Armut

Was aber verstehen demokratische Parteien unter "sozialer Gerechtigkeit"? Das Schlagwort von der Chancengleichheit machte die Runde. Michael Kasper (FDP) forderte ein besseres System der Arbeitsmigration. Dazu müssten Mindesteinkommen nach unten abgesenkt werden.  Er wünsche sich deswegen eine für Arbeitsmigration offenere Gesellschaft.

Demgegenüber betonte Alexandra Geese (MdEP Grüne) nicht nur die Bedeutung von Mindestlöhnen, sondern forderte auch Mindeststandards für soziale Sicherungssysteme. In Italien, so warnte sie, habe gerade eine rechtsextreme Regierung Sozialleistungen für die Ärmsten der Armen wieder abgeschafft. "Das ist nicht würdig für ein soziales Europa", betonte sie.

Der Europaabgeordnete Axel Voss (CDU) setzte für seine Partei einen besonderen Akzent auf gesellschaftlichen Zusammenhalt. Chancengleichheit bedeute, Durchlässigkeit zu schaffen für alle, die mehr leisten könnten und wollten, aber auch denjenigen zur Seite zu stehen, die sich nicht selbst helfen könnten.

Birgit Sippel (MdEP SPD) betonte auf die Frage nach sozialer Gerechtigkeit den Wert von Bildung: "Gerade in Deutschland ist der Zugang zu Bildung nach wie vor sehr von der Herkunft des Elternhauses bestimmt", sagte sie. Sie verwies auf unterschiedliche Einkommen, den Anspruch, in einer gesunden Umwelt zu leben, als Beispiel auch auf die digitale Ausstattung von ärmeren Familien.

Für Özlem Demirel (MdEP Linke) ist soziale Gerechtigkeit ein Kernthema ihrer Partei. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU könne man nicht ohne die soziale Frage denken, entgegnete sie an die Adresse von Kasper und Voss. Vierzig Prozent der Familien in der EU könnten sich noch nicht einmal einen Jahresurlaub leisten. "Die Menschen brauchen bessere Löhne und bessere Mindeststandards", forderte sie.

Zum Wahlkampf für das EU-Parlament hatte die Caritas in NRW ein Positionspapier mit konkreten sozialpolitischen Forderungen erarbeitet. Darin benennt sie vier Themenfelder, in denen sie in der nächsten Legislaturperiode des Europäischen Parlaments besonderen Handlungsbedarf sieht: Armutsbekämpfung, ein gemeinsames Asylsystem, Zugang zu fairer Arbeit sowie ein sozial gerechter Klimaschutz. Die Praxis der Caritas-Arbeit in den Themenfeldern wurde mithilfe von Videos in den Talk eingebracht, die konkrete Geschichten aus der sozialen Arbeit der Caritas zeigten.

CDU ohne Energie

Fast unnötig zu betonen, dass Grüne, SPD und Linke die Forderungen der Caritas in der Arbeitsmarktpolitik uneingeschränkt unterstützen. Aber wie umsetzen? Migranten brauchen einen besseren Zugang zu Ausbildung und Weiterbildung (Sippel, SPD), Berufsabschlüsse müssten einfacher anerkannt werden (Demirel, Linke) und Ausbildungswege müssten flexibilisiert werden (Geese, Grüne), denn das duale Ausbildungssystem baut insbesondere für Geflüchtete zu hohe Hürden auf.

Anders dagegen die FDP: die europäische Mindestverdienstgrenze bei der Greencard sei mit 41.000 Euro zu hoch, so Kasper erneut. Leider war Axel Voss von der CDU zu diesem Zeitpunkt schon aus dem Online-Talk ausgeschieden: seinem digitalen Device ging der Strom aus und ausgerechnet Voss, der noch in der Vergangenheit für die CDU das Gesicht der Digitalisierungspolitik auf europäischer Ebene war, hatte versäumt, ein Ladekabel einzustecken.

Um die Lebensverhältnisse innerhalb der EU weiter anzugleichen, erwartet die Caritas die Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte sowie eine inhaltliche Fokussierung und finanzielle Stärkung der europäischen Kohäsionspolitik. Für ein Europa, in dem Armut verhindert wird, fordert die Caritas zudem die vollständige Umsetzung der EU-Kinderrechts-Strategie und der Europäischen Garantie für Kinder. Auch da viel Zustimmung von SPD bis zur Linken, während Kasper (FDP) einer gesamteuropäischen Angleichung des Kindergeldes eine Absage erteilte.

Sozial gerechter Klimaschutz - europäisch gedacht

Ein Videoeinspieler zum Stromspar-Check faltete an dieser Stelle das Thema des sozial gerechten Klimaschutzes anschaulich auf. Ärmere Haushalte könnten sich energiesparende Geräte oft nicht leisten, aber gerade wegen der steigenden CO2-Abgaben und damit der politisch gewollten Verteuerung der Energie für Verkehr und Heizen zahlen ärmere Haushalte auf lange Frist drauf. Deswegen, so Birgit Sippel (SPD), "sollten wir nicht der Wirtschaft vertrauen, sondern regulieren." Und der öffentliche Personennahverkehr müsse - um nur ein Beispiel zu nennen - im Hinblick auf Fahrpreise, Linienverbindungen und Fahrplänen in den Grenzregionen Europas grenzüberschreitend angepasst und ausgebaut werden.

Dagegen setzt die FDP "mehr auf die marktwirtschaftliche Seite" (Kasper). Die FDP sei sehr zufrieden, Klimaschutz durch Zertifikatshandel umzusetzen. Auch ein 49-Euro-Ticket auf europäischer Ebene sei nicht notwendig, "so viel Verkehr gibt es ja gar nicht".

"Wir Grüne kämpfen für sozial gerechten Klimaschutz" sagte hingegen Alexandra Geese (Grüne). Man müsse jetzt handeln und nicht alles über den Preis regeln, wenn ab 2027 die Kosten steigen. Geese benannte auch Fragen des europäischen Beihilferechts und der Fördermittelvergaben als zu überprüfende Themen eines sozial gerechten Klimaschutzes.

Weiterentwicklung des Asylrechts

Irritationen gab es bei der Diskussion über das Thema Asyl. Die Caritas in NRW brachte mit einem Erklärvideo einen Vorschlag für ein praxistaugliches funktionierendes Asylsystem in die Diskussion ein. Es basiert auf einem "Non-Paper" (einer Art informellen Vorschlag), dass das Kommissariat der Deutschen Bischofskonferenz, der Jesuiten-Flüchtlingsdienst und der Deutsche Caritasverband im Herbst 2023 veröffentlicht hatten.

Manches daraus finde sich doch im gerade auf europäischer Ebene beschlossenen Asylkompromiss wieder, wunderte sich Birgit Sippel (SPD). Sie wies zudem auf rechtliche Ungereimtheiten hin. Die europäische Rechtssystematik müsse komplett geändert werden, wenn man diesen Vorschlag umsetzen wolle. Und genau das ist ja der Sinn eines "Non Papers". Es macht einen komplett neuen ordnungspolitischen Vorschlag, der statt nationaler Asylverfahren (wie jetzt) alle Asylverfahren an eine gemeinsamen, neu zu schaffende Europäische Asylagentur überträgt, deren Kompetenzen die der bestehenden Europäischen Asylagentur bei weitem überschreiten. Dafür werden nationale Asylverfahren abgeschafft!

Milder urteilte Alexandra Geese: Das seien Reformvorschläge für etwas, was gerade erst auf europäischer Ebene beschlossen wurde, "aber den Geist des Vorschlags finde ich gut", sagte sie. Ganz anders wiederum Michael Kasper von der FDP, der sich offen für einen strengeren Kurs in der Migrationspolitik aussprach und den Forderungen der Caritas widersprach.

Özlem Demirel dankte hingegen der Caritas: "Wir leben in einer Zeit, in der wir nicht Ihr Modell umsetzen können, sondern wo tatsächlich elementares Menschenrecht verletzt wird mit diesem Entscheid über ein neues Asylsystem in Europa", sagte sie und kritisierte die Bundesregierung, die "diese unselige Reform" des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) hätte verhindern sollen. Damit werde das individuelle Recht auf Asyl de facto abgeschafft.

Gestritten wurde im Weiteren über die Humanität in sogenannten "sicheren Drittstaaten", über die "Grenzverfahren" an den EU-Außengrenzen, über Versäumnisse der Kommission als der "Hüterin der Verträge", und Pushbacks, die den propagierten Werten der EU zuwiderlaufen.

Gerade dieses Thema sei in allen Facetten emotional, sagte Diözesan-Caritasdirektor Hopfenzitz in seinem Schlusswort. Die Caritas werde die verschiedenen Gedankengänge aufnehmen für weitere Diskussionen über ein humanitäres europäisches Asylsystem in einer solidarischen Europäischen Union.

Hopfenzitz dankte nicht nur Diskutierenden und Zuhörer*innen, die sich per Chat ebenfalls rege beteiligt hatten, er rief auch ausdrücklich zur Teilnahme an der Europawahl auf. "Wählen ist Ausdruck von demokratischer Mitbestimmung, eine hohe Wahlbeteiligung stärkt das Europaparlament und damit die gemeinsame europäische Idee", betonte er.

Markus Lahrmann