Kostendämpfung oder höhere Fachlichkeit beim SGB VIII?
Der Leiter des Deutschen Instituts für Jugendhilfe und Familienrecht (DIJuF), Dr. Thomas Meysen präsentierte zunächst neue Ansätze von Finanzierungen, Mischformen, die mit und ohne Beteiligung und fallbezogene Zustimmung des Jugendamtes realisiert werden könnten. Das im Sozialgesetzbuch VIII festgelegte Kinder- und Jugendhilferecht sei in der Steuerung der Hilfen zur Erziehung nach der Auffassung des juristischen Gutachtens flexibler als bisher gedacht.
Hintergrund sind die steigenden Fallzahlen und -kosten bei den Hilfen zur Erziehung nach dem SGB VIII. Wie es dazu kommt, wird zum Teil unterschiedlich bewertet. "Die schwierige Finanzsituation der Kommunen führt dazu, dass der Eindruck entsteht, dass fiskalische Aspekte vor eine gebotene Fachlichkeit gestellt werden und damit die Debatte zur Weiterentwicklung der Hilfen zur Erziehung im Grunde eine Debatte des Standardabbaus ist. Es sollen immer mehr Leistungen in kürzerer Zeit erbracht werden - und dies in einer Zeit zunehmend komplexer und problematisch werdender Lebenslagen von Familien, Kindern und Jugendlichen. Die Erziehungshilfen stehen in diesem Spannungsfeld von Ökonomie und gebotener Fachlichkeit unter einem enormen Druck", führte Heinz-Josef Kessmann, Sprecher der nordrhein-westfälischen Diözesan-Caritasdirektoren, in seiner Begrüßung aus.
Leitideen wie Vernetzung, Sozialraumorientierung und Prävention müssten inhaltlich diskutiert werden. Natürlich stelle sich die Jugendhilfe einem stetigen Veränderungsprozess, wie sich auch die Bedarfe der Familien änderten. Die Jugend- und Erziehungshilfelandschaft habe allein seit Einführung des SGB VIII deutliche Veränderungen und Ausdifferenzierungen des Leistungsspektrums entwickelt.
Vertragsloser Zustand beim Rahmenvertrag Jugendhilfe
Die Diskussion in der Aula des Essener Generalvikariates war lebhaft. Neben Dr. Thomas Meysen waren Reiner Limbach, Beigeordneter des Landkreistages NRW, und Prof. Dr. Holger Ziegler von der Universität Bielefeld eingeladen.
Reiner Limbach, der auch Vorsitzender der Landesarbeitsgemeinschaft der öffentlichen Wohlfahrtspflege ist (LAG ÖF), gestand seine Sorge wegen der gescheiterten Verhandlungen zum von kommunaler Seite gekündigten Rahmenvertrag für die stationären Hilfen. Er glaube, dass dieser vertragslose Zustand langfristig zum Schaden für die Kommunen führe. Er plädierte für qualitative und quantitative Standards für die stationäre Erziehung, die gemeinsam zwischen kommunaler Seite und Freier Wohlfahrtspflege vereinbart werden könnten.
Bedarf an erzieherischen Hilfen ist dreimal höher als die Angebote
Holger Ziegler erklärte, dass der Bedarf an erzieherischen Hilfen in Deutschland dreimal höher sei, als über die gegenwärtigen Angebote erreicht werde. Er berief sich dabei auf eine aktuelle Studie. In seinen Beiträgen lud er dazu ein "allgemein anerkannte Wahrheiten" kritisch zu hinterfragen, dass z. B. Vernetzung grundsätzlich positiv sei. Auf der anderen Seite koste Vernetzung Zeit, die nicht immer dem Menschen zu Gute käme. Er kritisierte die Position, dass der Sozialraum bzw. die Sozialraumorientierung nicht "der Lösungsansatz" sei. Individualverhalten hätte nicht immer etwas mit den Bedingungen des Sozialraumes zu tun. Allerdings würde die Gesellschaft sich mit schlechten Sozialraumbedingungen individuelle Probleme schaffen.
Heinz-Josef Kessmann fasste in seinem Schlusswort die lebhafte Diskussion zusammen: "Eine ausschließlich an Marktmechanismen orientierte Kinder- und Jugendhilfe, darf es nicht geben." Damit zielte er auch auf eine inzwischen etablierte Ausschreibungspraxis vieler Kommunen bei der Vergabe anderer Sozialleistungen, z. B. der Jugendberufshilfe ab. Die Freie Wohlfahrtspflege sperre sich nicht gegen alternative Finanzierungsmodelle. Was diese betriefe, liefere das Gutachten wertvolle Hinweise. Wichtig sei, dass fachliches Know-how für die Präventionsarbeit und sozialräumliche Konzepte Standard blieben. Die Jugendhilfe müsse den Spagat zwischen begrenzten kommunalen Mitteln und dem eigenen Anspruch auf Hilfe bewältigen. "Leider sind die kommunalen Finanzen in gleichem Maße konjunkturabhängig wie die Lebenslagen von Familien. Unsere Aufgabe ist die zielgerichtete Hilfe für die Menschen, die sie brauchen. Eine Wiederannäherung zwischen öffentlicher und freier Jugendhilfe muss gelingen. Wir brauchen eine gemeinsame Anstrengung, die das Wohl des Kindes und nicht Sparzwänge in den Mittelpunkt stellt."