Soziale Gerechtigkeit ist ein Grundpfeiler unseres Staates
"Der Staat muss in Bildung investieren, um übermorgen soziale Armut und Ausgrenzung zu verhindern."janvier/fotolia.com
Vor aller Auseinandersetzung um einzelne Politikfelder und konkrete Positionierungen geht es bei dieser Wahl um eine klare Absage an eine demagogische, fremdenfeindliche und populistische Politik. Nötig ist ein gemeinsames Auftreten aller Demokraten für ein weltoffenes, liberales und rechtsstaatliches Land Nordrhein-Westfalen und für eine Politik, die sich konsequent an der Würde jedes Menschen orientiert, sei er arm oder reich, Muslim oder Christ, Deutscher oder Flüchtling.
Neben dieser Grundsatzfrage ist jede Wählerin und jeder Wähler dazu aufgefordert, sich selbst auch ein Bild über die konkreten Ziele und Vorhaben der Parteien zu verschaffen und auf dieser Basis zu einer Wahlentscheidung zu kommen. Ein wichtiger Kompass ist dabei die Einschätzung des Handelns der Parteien in der jetzt zu Ende gehenden Legislaturperiode.
Die Caritas als katholischer Wohlfahrtsverband versteht sich als Anwalt für ein soziales NRW. Die Handlungsfelder der Sozialpolitik sind weder "Gedöns" noch Beiwerk, sondern zentrale Bestimmungsstücke für eine gerechte und menschenwürdige Gesellschaft. Soziale Gerechtigkeit und sozialer Zusammenhalt sind Grundpfeiler unseres Staates und sollten handlungsleitend für die Programmatik der Parteien - auch im Wahlkampf - sein. Ich persönlich halte es für dringend geboten, diese sehr grundsätzlichen Sätze einer Analyse der Erfolge und Misserfolge der jetzt zu Ende gehenden Legislaturperiode voranzustellen, da eine solche Rückbesinnung auf die zentralen wertorientierten Bestimmungsfaktoren der Politik für die Auseinandersetzung mit einer demagogischen, hasserfüllten Politik zentral ist - auch wenn sie leicht in populistischem Geschwafel untergeht!
Vor diesem Hintergrund soll nun anhand einiger zentraler Handlungsfelder der Sozialpolitik beispielhaft die Situation in Nordrhein-Westfalen dargestellt und bewertet werden.
Ein zentrales Anliegen der rot-grünen Landesregierung war in dieser Legislaturperiode die Stärkung präventiver Ansätze der Sozialpolitik. Durch stärkere Investitionen in die Familien- und Bildungspolitik sollten langfristig positive Effekte bei der Bekämpfung der Armut erzielt und damit auch die öffentlichen Haushalte von Kommunen und Land langfristig entlastet werden.
Mit dieser Argumentation hat die Landesregierung die höhere Netto-Neuverschuldung trotz hoher Staatseinnahmen begründet. Ob die damit verfolgte Strategie erfolgreich ist, wird sich erst in zwei bis drei Legislaturperioden zeigen.
Festhalten kann man jedoch, dass die öffentliche Diskussion über eine so verstandene präventive Sozialpolitik den Blick geöffnet hat für die grundsätzliche Notwendigkeit, auch im Bereich des Sozialen nicht nur kurzfristig von einem auf das andere Haushaltsjahr zu schauen, sondern in langen Zyklen zu planen. Nur so lässt sich Schritt für Schritt die in Deutschland nach wie vor extrem hohe Abhängigkeit der Bildungschancen von der sozialen Stellung der Eltern überwinden. Der Staat muss in Bildung investieren, um übermorgen soziale Armut und Ausgrenzung zu verhindern.
Der Landesregierung ist es in dieser Legislaturperiode gelungen, erhebliche zusätzliche Haushaltsmittel für die frühkindliche Bildung, Erziehung und Betreuung in den Tageseinrichtungen für Kinder zur Verfügung zu stellen. Ein besonderes Gewicht hatte dabei der Ausbau der Betreuung und Bildung für unter dreijährige Kinder. Gleichzeitig gilt aber auch, dass trotzdem der steigende Bedarf nicht abgedeckt werden konnte und die Personalkostensteigerung nicht ausreichend refinanziert wurde. Das gesamte System der Tagesbetreuung der Kinder ist zurzeit nicht auskömmlich finanziert, was die Qualität der Arbeit deutlich gefährdet. Hier muss - übrigens nach Meinung aller Beteiligten - in der nächsten Legislaturperiode dringend Abhilfe geschaffen werden.
Auch das Landesprogramm "Kein Kind zurücklassen! Kommunen in NRW beugen vor" resultierte aus dieser Strategie einer präventiven Sozialpolitik. In der Modellphase wurde in den teilnehmenden 18 Kommunen versucht, die unterschiedlichen Angebote in den Bereichen der Sozial-, Gesundheits-, Bildungs- und Jugendpolitik so miteinander in "Präventionsketten" zu vernetzen, dass Kinder, Jugendliche und Familien von der Schwangerschaft bis zum Berufsstart adäquate Unterstützung erfahren. Die Ergebnisse der Modellkommunen sollen nun auf ganz NRW ausgeweitet werden. Trotz aller Euphorie in der öffentlichen Darstellung der "Modellerfolge" - auch hier wird die Zeit erst zeigen müssen, ob sich wirklich etwas Neues entwickelt hat oder ob nicht "nur" bereits bekannte Instrumente und Verfahren durch ein solches Modellprojekt öffentlichkeitswirksam hervorgehoben werden. Auch die Finanzierung des Programmes, die ganz wesentlich aus Mitteln der Bertelsmann-Stiftung und des Europäischen Sozialfonds stammt, spricht noch nicht für die Nachhaltigkeit dieses Ansatzes. Also gilt auch hier: Die Denkrichtung stimmt - was das für die konkrete Politik in der nächsten Legislaturperiode bedeuten könnte, bleibt unklar.
Versäumnisse bei Krankenhäusern und Pflege
Sollen die Ursachen von Armut bekämpft werden, gehört dazu neben präventiven Handlungsansätzen die konsequente Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit. Immer wieder haben beide Regierungsfraktionen in diesem Feld die grundsätzliche Forderung der Caritas nach Schaffung eines langfristig finanzierten sozialen Arbeitsmarktes unterstützt, gleichzeitig aber mit Verweis auf die Bundespolitik eigene Initiativen unterlassen. Um Teilhabe am Arbeitsmarkt auch für besonders benachteiligte Personen sicherzustellen, wird die Caritas auch in der nächsten Legislaturperiode eine langfristige Integrationsstrategie für diese Personen fordern.
Verlassen wir den engeren Bereich der Sozialpolitik, können aus Sicht der Caritas zwei Felder der Pflege- und Gesundheitspolitik genannt werden, in denen das Land seiner Verpflichtung zur Schaffung verlässlicher Rahmenbedingungen für eine stabile Daseinsvorsorge nicht ausreichend nachgekommen ist:
- Im Bereich der Krankenhauspolitik ist es dem Land nicht gelungen, eine verlässliche Krankenhausplanung vorzulegen, die eine ausreichende und bedarfsgerechte Versorgung auch in den ländlichen Regionen des Landes sicherstellt. Ebenso muss die weiterhin unzureichende Investitionsfinanzierung der Krankenhäuser kritisiert werden. Hier leisten andere Bundesländer deutlich mehr (siehe auch den Beitrag "NRW-Politik muss Investitionsstau beenden").
- In der Pflege sind mittlerweile das Altenpflegegesetz und die dazu erlassene Durchführungsverordnung zu einer "unendlichen Geschichte" geworden, was die Träger stationärer Altenhilfeeinrichtungen extrem verunsichert hat und so strukturelle Planungen und Investitionen in diesem Bereich verhindert. Hier wünschen sich alle Träger - nicht nur die Caritas - verlässliche Rahmenbedingungen, die langfristig eine bedarfsgerechte Infrastruktur sichern.
Die dargestellten Beispiele verdeutlichen, dass Nordrhein-Westfalen - auch dank des Engagements der Freien Wohlfahrtspflege - im Prinzip über eine gute soziale Infrastruktur in vielen Feldern verfügt. Es wird Aufgabe der nächsten Landesregierung sein, diese Infrastruktur zu sichern und bedarfsgerechten Ausbau zu ermöglichen. Die Fortführung vorhandener Finanzierungsdefizite und unsicherer Rahmenbedingungen für die Arbeit würde diese Struktur weiter gefährden.
Heinz-Josef Kessmann
Direktor des Caritasverbandes für die Diözese Münster und
Sprecher der Diözesan-Caritasdirektoren in Nordrhein-Westfalen
Arbeitsmarktpolitik
Die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist seit Jahren unverändert. Die Politik setzte auf Qualifizierung und Bildung - vielfach vergebens, weil diese nicht den Fähigkeiten der Menschen entsprachen. Viele sind "ausqualifiziert", haben trotzdem keine Arbeit, mit der sie ihren Lebensunterhalt bestreiten können. Diese Menschen brauchen aber Teilhabe am Erwerbsleben, eine Zugehörigkeit zur Arbeitsgesellschaft, damit sie Anerkennung und Bestätigung finden und erfahren, dass sie einen Wert für die Gesellschaft haben. Eine dauerhafte, öffentlich geförderte Beschäftigung ist überfällig und hilft langfristig allen. Die Gesetzgebung in der Behindertenhilfe kann eine Orientierung sein.
Wilfried Reiners
Geschäftsführer des Volksvereins Mönchengladbach,
Träger von Beschäftigungs- und Qualifizierungsmaßnahmen für Langzeitarbeitslose
Behindertenhilfe
Das Land hat mit der Inklusion in den Schulen Erwartungen geweckt, die bislang nicht erfüllt sind. Die Regelschulen müssen besser ausgestattet werden! Die Förderschulen dürfen nicht stigmatisiert werden, das Wahlrecht der Eltern muss man weiterhin ernst nehmen. In der Behindertenhilfe ist das Land für ein Wohn- und Teilhabegesetz verantwortlich, das seinen Realitätstest erst noch bestehen muss. Wir haben zu viele hehre Versprechungen gehört und im Ergebnis mehr bürokratischen Aufwand betreiben müssen.
Thomas Bröcheler
Direktor von Haus Hall, einer großen Einrichtung für Menschen mit Behinderung
Jugendhilfe
Sozial benachteiligte und individuell beeinträchtigte junge Menschen mit besonderem pädagogischem Unterstützungsbedarf drohen aus dem Regelsystem Schule und der Berufsausbildung herauszufallen. Wer gesellschaftliche Teilhabe Jugendlicher fördern und ihre Abkoppelungsprozesse verhindern will, muss Projekte unterstützen, die Persönlichkeiten und Schlüsselkompetenzen fördern. Ohne Fachkräfte geht diese Arbeit nicht.
Simone Jansen
Leiterin der Jugendwerkstatt des Caritasverbandes für die Region Heinsberg
Kindertageseinrichtungen
Es werden zunehmend mehr Anforderungen an unsere Fachkräfte gestellt: Sie müssen mehr dokumentieren, sollen alltagsintegriert Sprache fördern - und das nicht nur bei Kindern mit Migrationshintergrund. Eltern wünschen sich längere und flexiblere Öffnungszeiten, immer mehr Kinder bleiben über Mittag in den Einrichtungen. Wir schaffen das, zusätzliche Förderprogramme von Bund und Land helfen uns dabei. Ein paar Wünsche hätten wir schon noch. Wenn die Aussage "Kinder sind unsere Zukunft" wirklich ernst gemeint ist, muss auch bei der Finanzierung von Kindertageseinrichtungen insgesamt noch eine Schippe draufgelegt werden, um die Rahmenbedingungen, vor allem den Betreuungsschlüssel, verbessern zu können.
Andrea Bischoff und Thomas Shajek
Verbundleitungen von zehn Kitas mit 32 Gruppen und rund 700 Kindern
in der Pfarrei St. Antonius (von Padua) in Rheine
Sozialpolitik
Ob die Strategie der präventiven Sozialpolitik erfolgreich ist, wird sich erst nach zwei oder drei Legislaturperioden zeigen.
Heinz-Josef Kessmann