Kein Kind zurücklassen
Kinderärzte und -pflegerinnen brauchen Erfahrung und viel Einfühlungsvermögen.Ingeborg F. Lehmann
Im Jahr 2011 nahm an der Vestischen Kinder- und Jugendklinik Datteln die Medizinische Kinderschutzambulanz ihre Arbeit auf. Die Einrichtung dieser Ambulanz - der ersten dieser Art in der Region - war die Konsequenz aus den Beobachtungen der vergangenen Jahre: Kinder mit Anzeichen von Misshandlung, Vernachlässigung oder Missbrauch wurden immer wieder in der Klinik vorgestellt, und es wurde deutlich, dass es, um den Patienten gerecht zu werden und den Ärzten Handlungssicherheit zu geben, standardisierte Strukturen, Zeit und vor allem qualifizierte Fachkenntnisse für diese Thematik geben muss.
Die Nachfrage nach Untersuchungen und Beratungen durch die Medizinische Kinderschutzambulanz war von Beginn an groß - und mit steigendem Bekanntheitsgrad nahmen auch die Fallzahlen immer weiter zu. Im Jahr 2014 wurden in der Ambulanz 550 Patienten vorgestellt.
Die Kinder, die in die Medizinische Kinderschutzambulanz kommen, stehen meist unter enormem Druck. Sie haben schreckliche Dinge erlebt, und fast immer sind die Täter Verwandte oder Bekannte. Die Verpflichtung, loyal zur Familie zu sein, und die Angst davor, was passiert, wenn sie von dem Erlebten berichten, lassen Kinder viel ertragen.
Ein wichtiges Prinzip der Arbeit ist deshalb, dass die Untersuchung so vonstattengeht, wie es für das Kind gut ist - unabhängig von Termindruck oder sonstigem Stress. Ob man zuerst den Teddy untersucht, die Ohren und die Zehen oder ob ein zweiter Besuch nötig ist, damit das Kind Vertrauen fassen kann: All das ist möglich. Für die Patienten ist es von enormer Bedeutung, dass sie die Kontrolle über die Situation haben und die Erfahrung machen, dass nichts gegen ihren Willen geschieht.
In die Medizinische Kinderschutzambulanz kommen Kinder mit Blutergüssen und frischen oder alten Knochenbrüchen, mit Verbrennungen und Verbrühungen, mit Symptomen wie Unterernährung oder Entwicklungsverzögerungen als Folge mangelnder Fürsorge und Kinder, die Opfer sexuellen Missbrauchs geworden sind. Nicht immer kann die Untersuchung eindeutige Beweise liefern, gerade sexueller Missbrauch ist schwer nachweisbar. Sie kann jedoch erreichen, dass die Kinder das Gefühl körperlicher Unversehrtheit zurückerhalten.
Fast immer sind Jugendämter und häufig auch Polizei in die Fälle involviert. Für sie ist es wichtig, eine ausführliche Dokumentation der Untersuchungsergebnisse und der Erzählungen der Kinder zu bekommen. Im Mittelpunkt der Arbeit steht immer, das Kind zu schützen und eine Verbesserung seiner Situation zu erreichen. Die Entscheidung, ob das Kind aber beispielsweise in der Familie bleibt oder nicht, trifft das Jugendamt oder ein Familienrichter. Für die Behörden ist die Einschätzung der behandelnden Ärzte und der Dokumentationen aber eine wichtige Grundlage.
Die Kinder, die in die Medizinische Kinderschutzambulanz kommen, haben viel ausgehalten und ertragen - das macht sie zu kleinen Kämpfern, die zum Teil ganz erstaunliche Überlebensstrategien entwickelt haben. Umso wichtiger ist es, dass die Klinik sich gemeinsam mit den Behörden und Ämtern für sie starkmacht und sie mit dem Erlebten nicht alleinlässt. Die Arbeit in der Medizinischen Kinderschutzambulanz erfordert eine gute Fachkenntnis, starke Nerven und vor allem: Zeit. Diese Zeit wird bislang kaum vergütet: Medizinischer Kinderschutz ist noch immer keine Regelleistung der Krankenkassen. Deshalb ist die Ambulanz nach wie vor auf die Unterstützung durch private Spender und Stiftungen angewiesen, um das Angebot aufrechterhalten zu können.