Plastik aus dem Nil fischen
Kairo: Eine kleine Fähre bringt Menschen von der Insel Qursaya im Nil zum Ufer, weil es keine Brücke gibt. (c) Markus Lahrmann
Ägypten ist ein Geschenk des Nils, Jahrtausende lang brachte er Wasser und fruchtbaren Schlamm mit sich und war so die Quelle allen Lebens inmitten der Wüste. Wasser bringt er heute immer noch. Gleichzeitig transportiert er Unmengen an Plastikabfällen auf seinem langen Weg von den tropischen Regenwäldern Afrikas bis ins Mittelmeer. Nach Angaben des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung zählt der Nil zu den zehn Flüssen weltweit, die zusammen rund 90 Prozent des Plastik-Abfalls in die Meere schwemmen.
Wenn der Nil auf seinem über 6000 Kilometer langem Weg die ägyptischen Hauptstadt Kairo erreicht, den Ballungsraum mit geschätzt 23 Millionen Einwohnern, transportiert er enorme Mengen an anorganischem Abfall. Etwa 4,5 Millionen Tonnen Müll landen jährlich im Nil, gelangen damit ins Mittelmeer mit verheerenden Auswirkungen auf Tourismus und Fischerei-Industrie.
Das Nil-Ufer bei Kairo ist stark verschmutzt. Plastik-Abfälle belasten die Tier- udn Pflanzenwelt und reichern sich in der Nahrungskette an.(c) Markus Lahrmann
Das klingt wie eine Sisyphus-Arbeit und das ist es auch. Doch "VeryNile", eine Initiative, die den Nil vom Plastik-Müll säubern will, setzt auf nachhaltige Methoden und versucht, das Umweltbewusstsein der Menschen am Fluss zu schärfen. Ihr ist es gelungen, soziale Verbesserungen mit den ökologischen Anliegen zu verknüpfen und damit erstaunliche Erfolge zu erzielen.
Das Hauptquartier von "VeryNile liegt auf der Insel Qursaya nahe dem Stadtzentrum von Kairo. Hier hin muss man mit dem Ruderboot übersetzen, es gibt keine Brücke. Es ist schwülwarm und schon in der Umgebung des Zentrums riecht es nach Abfall. Vier Arbeiter in blauen T-Shirts mit dem aufgedruckten Logo von VeryNile stehen an Containern und sortieren leere Plastikflaschen nach Farben, schrauben die Deckel ab. Die farblosen durchsichtigen Flaschen werden in eine große Kompressor betriebene Presse gefüllt, ist das Behältnis voll, zieht einer einen Hebel und mit lautem Knacken senkt sich die Presse. "Die gepressten Ballen aus transparentem PET-Plastik werden bei einer Firma in der Nähe gehäckselt und geschreddert und dann nach Spanien exportiert, wo sie in Möbeln und Kleidung mitverarbeitet werden", erklärt Ali El-Demerdash, der im Management des Projekts mitarbeitet. Das sogenannte "Mix Plastik" also die eingefärbten Flaschen, die Deckel, Tüten, Kanister, Planen, Slipper und anderes Material verkauft VeryNile an eine Zementfabrik im eigenen Land, die damit die energiehungrigen Brennöfen beschickt.
Es sind Fischer, die hier in der Sortier- und Recycling-Station arbeiten. Rund 3000 Menschen leben auf der Insel Qursaya mitten auf dem Nil, sie sind für ihren Lebensunterhalt auf den Fluss angewiesen. Weil der Plastikmüll die einst reichen Fischbestände des Nils dezimiert, ist auch ihre Lebensgrundlage bedroht.
Die Industrie setzt oft Erdöl ein, auch bei PET-Flaschen: So besteht eine 75-Milliliter-PET-Flasche aus 0,3 Liter Erdöl. Die Erdölverarbeitung ist ein großer Grund für die Klimakrise und die Naturverschmutzung. (c) Markus Lahrmann
VeryNile ist es mit dem Projekt gelungen, die ökologischen Anliegen mit sozialen Verbesserungen für die auf der Insel lebenden Fischerfamilien zu verknüpfen. "Die Idee war, dass die Fischer nicht nur für die gefangenen Fische bezahlt werden könnten, sondern genauso gut für das Fischen nach Plastik-Müll", sagt El-Demerdash.
Landet das PET in der Umwelt, kann es sich auf Dauer zersetzen und wird so zu sekundärem Mikroplastik. Denn PET ist nicht biologisch abbaubar. Es kann in das Grundwasser gelangen. Außerdem gefährdet es den Lebensraum von Tieren und Pflanzen. Es dauert rund 400 Jahre, bis eine PET-Flasche komplett zu Mikroplastik wird.(c) Markus Lahrmann
Rund 65 Fischer machen mit und werden von VeryNile für jedes angelieferte Kilo Plastikmüll bezahlt. Das rechnet sich für die Fischer, sie liefern tonnenweise Plastik an. In der Sortier-Anlage entstanden zudem nach und nach weitere sieben Arbeitsplätze.
Um den Plastikmüll besser transportieren zu könne, wird er sortenrein gepresst und zu großen Bündeln verschnürt.(c) Markus Lahrmann
2018 war VeryNile in Kairo zunächst mit einem "Clean-Up-Projekt" gestartet, wie wir es auch als Dreck-Weg-Tag oder Rhine-Clean-Up in Deutschland kennen. Über Facebook wurden Freiwillige geworben, rund 750 Helferinnen und Helfer beteiligten sich und sammelten anorganische Abfälle, die der Nil an die Ufer geschwemmt hatte. Doch mit dem Beginn der Corona-Pandemie sank die Zahl der Freiweilligen auf nur noch 25, berichtet El-Demerdash. VeryNile brauchte neue Ideen und wandte sich an die ortsansässigen Fischer.
Die Zusammenarbeit zwischen Umweltschützern und den Fischern brachte anfangs einen Kulturschock auf beiden Seiten. "Es war ein langer und sehr interessanter Prozess mit viel Kommunikation," sagt El-Demerdash, "wir hatten erst zu lernen, was im Umgang mit den Fischerfamilien zu beachten ist und sie mussten den Sinn hinter der Plastikfischerei verstehen."
Frauen aus Fischerfamilien verarbeiten HDPE-Kunststoff aus Folien und Verpackungsmaterial zu Upcycling-Produkten, die über einen Webshop verkauft werden. In der Manufaktur entstehen so gehäkelte Accessoires, Hüte, Gürteltaschen, Laptoptaschen, Körbe und andere Produkte aus recycelten Einweg-Plastiktüten.(c) Markus Lahrmann
Inzwischen arbeiten auch 13 Frauen aus den Fischerfamilien in dem Projekt. Sie verarbeiten HDPE-Kunststoff aus Folien und Verpackungsmaterial zu Upcycling-Produkten, die über einen Webshop verkauft werden. In der Manufaktur entstehen so gehäkelte Accessoires, Hüte, Gürteltaschen, Laptoptaschen, Körbe und andere Produkte aus recycelten Einweg-Plastiktüten.
Es sei enorm wichtig, das Bewusstsein für den Umweltschutz, die Müllvermeidung und Recycling-Möglichkeiten zu entwickeln. Für die Kinder auf der Insel bietet VeryNile inzwischen Alphabetisierungs-Klassen und Kurse zur Sensibilisierung und Bewusstseinsbildung für die Plastik-Verschmutzung an. "Die Insel war wie eine ‚Bubbel‘, eine weitgehend abgeschlossene Sonderwelt," sagt El-Demerdash. Jetzt sähen die Menschen auch, wie es außerhalb der ‚Bubbel‘ aussehen könnte.
Finanziert wird VeryNile von einer großen Stiftung, aus Spenden, aus den Recycling-Erlösen und aus den Upcycling-Verkäufen, das Projekt wird aber auch unterstützt vom ägyptischen Umwelt-Ministerium und dem Ministerium für Jugend und Sport.
Weil die große UN-Klimakonferenz COP27 vom 6. bis zum 18. November 2022 in Sharm El-Sheikh stattfindet, wird die Aufmerksamkeit der Welt auf Ägypten gerichtet sein. Dessen ist sich die ägyptische Regierung bewusst - und sie versucht hat natürlich im Vorfeld versucht, auch im eigenen Land Fortschritte im Bereich Nachhaltigkeit, Umweltbewusstsein und Klimaschutz zu erzielen. Vor fünf Jahren sei das Thema "Klimaschutz" für die Menschen in Ägypten sehr abstrakt gewesen und ein Thema für theoretische Debatten, sagt der ägyptische Minister für Jugend und Sport Ashraf Sobhy: "Das Thema war sehr weit weg, etwas, von dem wir wussten, das aber im alltäglichen Leben nicht sehr evident war". Jetzt sei das Problem im Alltag angekommen. Jeder merke, dass sich Temperaturen verändern, dass die Energiekosten steigen, weil die Klimageräte länger laufen müssen.
Die Klimakrise erfordere einen Kulturwandel und einen Bewusstseinswandel, der schon bei der Erziehung der Kinder ansetzt. Das finde in Ägypten "Top-Down" statt. Die Regierung speise das Thema in die Bildungskanäle ein, modernisiere die Curricula in den Schulen und versuche, es damit auf breiter Basis in die Bevölkerung zu bringen.
Ali El-Demerdash, der im Management des Projekts mitarbeitet, präsentiert Upcycling-Produkte, die im Webshop angeboten werden. (c) Markus Lahrmann
Auf der COP26 in Glasgow im Jahr 2021 hatten sich Hunderte von Ländern verpflichtet, die Energiewende und den Klimaschutz in den ärmsten Ländern der Welt zu unterstützen - jenen, die nur sehr wenig zu CO2-Emissionen und Umweltverschmutzung beitragen, aber am stärksten vom Klimawandel betroffen sind.
Der Tag, an dem kein Plastik mehr im Nil schwimmt
Ob diese Zusage je eingelöst wird, ist angesichts der neuen Welt-Unordnung und zahlreichen Krisen mehr als fraglich. Aber die Kooperationen von NGOs könnten ein Vorbild sein. VeryNile berichtet auf seinr Webseite, dass die Initiative das erste Reinigungsboot für Plastikabfall in Afrika zu Wasser gelassen hat. Entworfen wurde das Boot "VeryNile I" in Deutschland von der NGO One Earth One Ocean [Link] und mit ihrer Unterstützung in Ägypten gebaut. Immerhin 500 Kilogramm feste Abfälle kann es pro Woche sammeln, es schippert fünf Tage pro Woche rund um die Insel Qursaya. OEOO finanzierte das gesamte Projekt und unterstützt den täglichen Betrieb von VeryNile auch weiterhin.
Doch trotz der Erfolge wird es noch lange dauern, darüber gibt es kaum Illusionen. VeryNile-Mitarbeiter El-Demerdash erzählt von einem Witz, der das gemeinsame Ziel der einheimischen Fischer und des Managements beschreibt: "Der Tag, an dem kein Plastik mehr im Nil schwimmt, das ist der Tag, an dem wir alle arbeitslos werden."
"Wir freuen uns auf die Arbeitslosigkeit", sagt El-Demerdash.
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