Caritas in neuen pastoralen Räumen
Die traditionelle Deckungsgleichheit von Lebensraum und kirchlicher Struktur ist aufgekündigt. So gehen vertraute Nähe und das gewohnte Bild von Gemeinde verloren. Darauf muss sich auch die Caritas einstellen, sowohl die Gemeindecaritas als auch die etablierten Einrichtungen und Dienste der Caritasverbände. Gelingt der Wandel, können Menschen in den Blick kommen, die unerwartete Bereicherungen bieten. Menschen, die den Gemeinden bisher fehlten!
Was steht wirklich auf dem Spiel? An zwei Aussagen Jesu sei dies kurz illustriert: Jesus stellt den Jüngern die Frage: "Wird der Menschensohn, wenn er kommt, auf der Erde noch Glauben vorfinden?" (Lk 18,8), und er sagt: "Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan" (Mt 25,40). Es geht also nicht um Strukturen, sondern um den Glauben und die tätige Liebe. Beides sind elementare Beziehungsaussagen. Nichts anderes soll in den Gemeinden geschehen: den Glauben feiern und weitergeben und tätige Liebe praktizieren.
Gemeinden in Angst um sich selbst
Zu viel Energie aber geht bei den Strukturprozessen in die Abwehr der eigenen Angst vor Bedeutungs-, Identitäts-, Macht- und Kontrollverlust. Die personell völlig ausgedünnten Pastoralteams können den tradierten "Spielpan" nur eine kurze Zeit lang durch ein Mehr des Gleichen kompensieren. Kontrollverluste über die Aktivitäten der Ehrenamtlichen in den Gemeinden sind an der Tagesordnung. Aktuell ist zu beobachten, dass bisher lokal eigenständig arbeitende Caritaskreise, Besuchsdienste oder Nachbarschaftsinitiativen durch Zentralisierung und Fusionierung in ihrer Kompetenz eher beschnitten werden (Kassen der verschiedenen Caritaskreise werden diesen entzogen, zentralisiert und "verhauptamtlicht").
Die Reichweite des Handelns der Gemeinden (insbesondere ihrer Ehrenamtlichen) bleibt - teils zunehmend - an die Reichweite der Hauptamtlichen gekoppelt. Gemäß dem Motto: Was nicht kontrollierbar ist, findet besser gar nicht statt als unkontrolliert. Gleichzeitig werden Seelsorger(innen) immer weniger erreich- und erlebbar. Wenn es aber um Beziehung in Glaube und tätiger Nächstenliebe geht, müssen Christinnen und Christen in ihrer Kompetenz aus Taufe und Firmung gestärkt werden und Vertrauen geschenkt bekommen. Angstreaktionen sind letztlich Zeichen des Unglaubens. Hinzu kommt, dass Gemeinden unter Milieuverengung und Überalterung leiden und den Weg der Selbstisolation in die reduzierte "Kerngemeinde" gehen.
Hier hat es Caritas traditionell schwer. Ein Problem der Kerngemeinde tritt nun in neuem Maßstab auf: Werden fünf milieuverengte Gemeinden zusammengefasst, ist die Summe größer, aber die Verengung bleibt. Positiv dagegen stehen Berichte von Kolleg(inn)en des Fachdienstes Gemeindesozialarbeit. Sicher ist: Die Engagierten der Caritas, ob mit starkem oder weniger ausgeprägtem Kirchenkontakt, finden sich - trotz und oftmals sogar wegen der neuen Struktur. Neue Koalitionen werden möglich, und lokale Initiativen bekommen einen größeren Radius der Kommunikation.
Das Leben suchen - auf Menschen im Quartier zugehen
Das Leben der Menschen schert sich bekanntlich nicht darum, in welchem Pastoralraum es geschieht. Die alltäglichen Sorgen und Nöte sind relevant. Orientierung ins Quartier ist das Gebot der Stunde. Und weil es dort an Not nie mangelt, gilt für jede Gemeinde der Satz aus der Enzyklika "Deus caritas est": "Liebe - Caritas - wird immer nötig sein, auch in der gerechtesten Gesellschaft" (DCE 28). Ermutigend sind Berichte von sozialen Projekten, die, ausgehend von Gemeinden, an den Lebensorten der Menschen stattfinden und den jesuanischen Auftrag ernst nehmen. Die bundesweite Studie von Prof. Udo Schmälzle "Menschen, die sich halten - Netze, die tragen" von 2008 gibt gerade für Nordrhein-Westfalen eine Vielzahl von guten Praxiseinblicken, wie Caritas und Gemeinde wieder mehr zusammenkommen können.
Für viele der Gemeinden in den neuen pastoralen Räumen wäre die Beschäftigung mit der Not der anderen eine wirkliche Alternative zur depressiven Selbstbeschäftigung und ein echter Ausstieg aus der Spirale der Resignation. Die französischen Kirchen haben dies vor gut 15 Jahren begonnen. Der Blick auf die anderen und die Gesellschaft kann dann zur Befreiung und Erneuerung der Gemeinde werden. Der französische Bischof Claude Dagens, Initiator des missionarischen Erneuerungsweges der französischen Kirche, formuliert es deutlich: "Eine notwendige Befreiung besteht darin, die Kirche von der quälenden Sorge um sich selber zu befreien!" Die Caritas der Gemeinde spielt bei dieser Befreiung und Gemeindeerneuerung eine zentrale Rolle.
Es kommt darauf an, den pastoralen Raum als sozialen Beziehungsraum neu zu bestimmen und dabei den unmittelbaren Kontakt zu den Notleidenden und den anderen Bürgern zu suchen. Gelingt diese Öffnung, eröffnen sich für die Gemeinde unerwartet neue Kontakte sowohl zu Menschen, die arm sind und am Rande leben, als auch neue Kontakte zu Freiwilligen, die sich dem sozialen Ziel einer christlichen Initiative anschließen möchten. Kirche wird Caritas. Caritas in der Gemeinde ermöglicht so Lebendigkeit und Zugänge zu den anderen, indem man nicht über sie, sondern mit ihnen spricht.
Kirche wird Caritas
Der Kahlschlag in den deutschen Diözesen ist nüchtern als ein anhaltender Rückbau der pastoralen Infrastruktur und Zentralisierung zu bewerten, bei dem ein Ende nicht absehbar ist. Als Bewegung raus aus den Quartieren wirkt sie kontraproduktiv. Im Kontrast dazu und proportional an Größe wachsend steht das Netz von Einrichtungen und Diensten der verbandlichen Caritas. Hier werden ehemals gemeindliche Funktionen fortgeschrieben und Versorgungsstrukturen im Sozialraum/Quartier bereitgestellt.
Die äußere Erkennbarkeit und Erreichbarkeit von Kirche wird zunehmend mehr von Caritas geprägt sein. Auch so gilt: Kirche wird Caritas. Das weckt Begehrlichkeiten, die Einrichtungen der Caritas ins Fahrwasser der pastoralen Planung zurückzuholen. In der Tat haben diese oft wenig Kontakt zum "pastoralen Raum" oder zu den Gemeinden. Die Caritaszentren in Duisburg gehen hier einen hoffnungsvollen Weg der Verbindung ohne Vereinnahmung (siehe Caritas in NRW 4/09). Die etablierten Einrichtungen und Dienste der verbandlichen Caritas müssen ihrerseits Farbe bekennen, ob sie separierte Parallelwelten im pastoralen Raum sein wollen oder eine Öffnung in Richtung Gemeinde und Zivilgesellschaft vollziehen möchten. Kommunikative Funktionen, die kirchliche Gemeinden nicht mehr abdecken, und soziale Funktionsbedarfe der Nachbarschaft können auch in einem Altenheim, einem Begegnungstreff, der Beratungsstelle etc. der Caritas stattfinden bzw. einen guten Ort finden.
Auch Gemeinde kann dort entstehen. Dies zu verbinden ist eine neue soziale Aufgabe der Caritas. Es geht um nützliche Beziehung an den Orten der Menschen. Caritas wird durch die Einrichtungen mehr Kirche, wenn sie nah an den Menschen ist und mehr von der christlichen Idee der Solidarität im Quartier getragen ist als von der Ökonomie. Das erfordert von den Verantwortlichen der Caritas ein Umdenken und die Realisierung ihrer Verantwortung, auch ihren Teil des oben genannten Auftrags Jesu zu realisieren.