Lässt sich Nächstenliebe anordnen?
Deutscher Caritasverband/Julia Steinbrecht, KNA
Seit Aussetzung der allgemeinen Wehrpflicht und damit des Zivildienstes im Jahr 2011 gibt es zwar ein freiwilliges soziales Engagement für die Gesellschaft in Form von Bundesfreiwilligendienst (BFD) und Freiwilligem Sozialem Jahr (FSJ). Dennoch klagt der Sozialsektor über die fehlenden Hände, die durch den früheren Pflichtdienst vorhanden waren. "Freiwillig" ist in dieser Diskussion für die Caritas ein Kernbegriff, aber was bedeutet dies aus unterschiedlichen Perspektiven?
Unter Moderation von Dr. Thomas Günther (DiCV) stand dabei auch die Forderung des Deutschen Caritasverbandes im Fokus, dass die bestehenden Freiwilligendienste nicht durch eine Pflichtlösung ersetzbar seien. Dies sieht auch Diözesan-Caritasdirektor Josef Lüttig so: "Eine aktive Förderung der Freiwilligendienste durch die Politik ist existenziell." Man müsse pragmatische Lösungen wie die kostenfreie Nutzung des ÖPNV, einen Anspruch auf Wohngeld, aber auch mehr gesellschaftliche Anerkennung und Wertschätzung schaffen, dabei jedoch unbedingt weiter auf die Freiwilligkeit im sozialen Engagement setzen.
"Wir müssen uns fragen, was das eigentliche Ziel dieser Debatte ist", betonte Diözesan-Caritasdirektorin Esther van Bebber. Aus ihrer Sicht bieten beide Varianten Vor- und Nachteile: Ein verpflichtendes Modell könne die gesellschaftliche Anerkennung in der Breite stärken und einer diverseren Gruppe von jungen Menschen soziales Engagement und die damit verbundenen Berufsfelder zugänglich machen. Trotzdem müsse man "das mildeste und geeignetste Mittel finden, um mehr Menschen für soziales Engagement und einen Beitrag zur Gesellschaft zu bewegen".
"Sünde an der jungen Generation"
Aus politischer Sicht standen sich die Positionen von Dagmar Hanses, MdL (Bündnis 90/Die Grünen), und Dr. Carsten Linnemann, MdB (CDU), gegenüber. Hanses befürchtet, dass mit einem Pflichtmodell eine "Sünde an der Zukunft der jungen Generation" begangen werde. Diese habe schon durch die Corona-Pandemie genug zurückstecken müssen. Ein soziales Pflichtjahr, so die Politikerin, sei wohl schwer mit dem Recht auf freie Berufswahl zu vereinbaren und bedeute ein mögliches Belastungspotenzial für soziale Einrichtungen, die dann mit nicht geeigneten Menschen ohne Motivation ihren Alltag meistern müssten.
"Gesellschaftsjahr ist sinnstiftend"
Linnemann hingegen setzt klar auf ein Pflichtjahr, würde es in Gesellschaftsjahr umformulieren und deutlich im Angebot ausweiten: von Vereinen bis Katastrophenschutz und Stiftungswesen. Außerdem müsste die Möglichkeit zu berufsbegleitenden Lösungen über mehrere Jahre mitgedacht werden, sodass die aktive Wahrnehmung gesellschaftlicher Grundaufgaben seitens des Einzelnen nicht mehr als Pflicht, sondern als sinnstiftende Aufgabe wahrgenommen würde. Es sei wichtig, als Gesellschaft nicht nur Rechte, sondern eben auch Pflichten wahrzunehmen.
Aus der Sicht caritativer Träger berichteten Andrea Asshauer (Josefsheim, Olsberg) und Patrick Wilk (Vorstand Caritasverband Paderborn) von ihren Erfahrungen. "Ein grundständiges Problem ist die fehlende Attraktivität in den Pflege- und Betreuungsberufen", so Asshauer. Die Arbeitsbedingungen in den pflegerischen Berufen seien für junge Menschen unattraktiv und durch das eigene Erleben im Freiwilligendienst für viele eher abschreckend. Nur wenn die Möglichkeiten für soziales Engagement bunt, vielfältig und frei wählbar seien, seien sie auch attraktiv.
"Klebeeffekte" zweitrangig
Die oft beschriebenen "Klebeeffekte" junger Menschen, die durch ein FSJ oder den BFD im sozialen Bereich verblieben, beschreibt Patrick Wilk als lediglich "kollateralen Nutzen". Wenn keine Bereitschaft in einer Gesellschaft für mehr Solidarität da sei, dann würden einige Leute weiter klarkommen, aber einige eben auch gar nicht mehr. Deswegen plädiere er für einen Pflichtdienst, der in seiner Ausgestaltung aber finanziell fair, gesellschaftlich akzeptiert und mit klarer Haltung zu generationenübergreifender Solidarität gestaltet werden müsse.
Gegen einen Pflichtdienst positionierten sich in der Diskussion durchweg die Freiwilligendienstleistenden selbst. "Solidarität bedeutet nicht, dass die Jugend für die Gesellschaft aufkommt, sondern die Gemeinschaft", betonte Marie Jolie Gossing, zurzeit als Bundesfreiwillige im Krankenhaus tätig. Eine Pflicht wirke sich demotivierend auf die eigene Haltung aus. "Jeden zu seinem Glück zwingen" ist auch für Jonas Niemczyk (FSJ) keine Option. "Soziales Engagement, das sind für mich schöne Erfahrungen mit einer guten qualitativen Begleitung." Beides sei mit Zwang und mangelnder personeller Ausstattung der Einrichtungen im Pflichtfall nicht möglich.
Nach Ansicht von Annette Lödige-Wennemaring (IN VIA Diözesanverband Paderborn) lässt sich gesellschaftlicher Zusammenhalt nicht verordnen, "der muss wachsen". Man müsse Möglichkeiten für gute Erfahrungen und mehr Anerkennung bieten.
cpd