Viele Familien leben unter dem Existenzminimum
Längst sind die tatsächlichen Kosten für Elektrizität der dafür vorgesehenen Pauschale enteilt, und für die vom Jobcenter akzeptierten Mieten finden sich keine Wohnungen mehr. "Seit Jahren kritisieren wir die Berechnungsgrundlagen als realitätsfern", stellt Münsters Diözesan-Caritasdirektor Heinz-Josef Kessmann, fest.
Die Inflation vergrößert die Lücke aktuell weiter. Zum Jahresbeginn ist der Regelsatz um drei Euro oder 0,67 Prozent auf 449 Euro angehoben worden bei einem Preisanstieg von knapp fünf Prozent im Jahr 2021. "Damit dreht sich die Armutsspirale weiter", erklärt Kessmann. Bei der Diskussion um eine Reform dürfe es nicht nur um einen schöneren Namen gehen. Dem "Bürgergeld" müsse eine grundlegende Reform zugrunde liegen.
Im Blick sind derzeit die stark steigenden Energiekosten, die sich in den jetzt eintreffenden Jahresrechnungen widerspiegeln. Während die Heizkosten in "angemessener Höhe" vom Jobcenter zusätzlich übernommen werden, ist für Strom eine Pauschale von 36,44 Euro im Regelsatz eingerechnet. Die tatsächlichen Kosten liegen aber im Durchschnitt bei etwa 50 Euro. Der Mehrbetrag geht vom Existenzminimum ebenso ab wie Wohnkosten, die über den anerkannten Sätzen liegen.
Keine günstigen Wohnungen
Während die Wohnungsgrößen entsprechend der Zahl der Haushaltsmitglieder allgemein festliegen, passen sich die akzeptierten Miethöhen den örtlichen Mietspiegeln an. In Münster darf die bis zu 50 Quadratmeter große Single-Wohnung maximal 532 Euro kosten, in Rheine sind das beispielsweise 388 Euro und in Warendorf 409 Euro. In Kleve gibt es aktuell 520 Euro Mietzuschuss für eine Person und 860 Euro für vier. Darin enthalten sind dann schon die Heiz- und sonstigen Nebenkosten.
Praktisch lassen sich zu diesen Sätzen nach Rückmeldungen aus mehreren Beratungsstellen aber keine Wohnungen mehr finden, vor allem keine größeren für mehr Personen: "Große Wohnungen sind absolute Mangelware", sagt Michael Mehlich von der Allgemeinen Sozialberatung der Caritas im Münsteraner Stadtteil Coerde: "Die Leute sind verzweifelt." In der Not werden auch teurere Wohnungen akzeptiert, aber der Mehrbetrag "muss aus dem Regelsatz bestritten werden wie auch sämtliche Erhöhungen der Nebenkosten", sagt Mehlich.
Schulden häufen sich an
Der Regelsatz schmilzt aber noch weiter dahin. Fast alle Arbeitslosengeld-II- oder Empfänger von Grundsicherung tragen Darlehen beim Jobcenter oder Sozialamt ab. Sehr häufig werden Mietkautionen zurückgezahlt oder mussten Haushaltsgeräte unvorhergesehen ersetzt werden. Die Rückzahlungen sollen maximal zehn Prozent des Regelsatzes betragen. Um das einhalten zu können, werde dann einfach ein Kredit an den anderen gehängt und die Laufzeit verlängert, erklärt Andreas Dawo, Schuldnerberater der Caritas Ahaus-Vreden. Das kann in der Folge zu einem seiner aktuellen Fälle führen, in dem ein Ehepaar mittlerweile 10.000 Euro an Schulden in einem halben Dutzend Darlehen aufgehäuft hat.
Damit nicht genug, sind Hartz-IV-Beziehende von Rückforderungen des Jobcenters betroffen. "Vielfach werden Leistungen erst einmal vorläufig bewilligt und dann oft höher", erklärt Michael Mehlich. Das geschieht vor allem dann, wenn der Bezieher zwischendurch einen Job hat und etwas eigenes Geld verdient. Was am Ende zum Leben bleibt, wird damit völlig unkalkulierbar. Aber eigentlich müsse der ALG-II-Empfänger ständig die Lebensdauer seiner Haushaltsgeräte im Blick haben und dafür etwas Geld zurücklegen.
Schwierig kann in Münster auch vermeintliche Hilfe werden. In den Stadtwerken bemühe sich eine Sozialarbeiterin darum, die Stromschulden der Kunden in den Griff zu bekommen. Im Ergebnis bedeute das jedoch, dass Ratenzahlungen zusätzlich zu den Darlehen des Jobcenters vereinbart würden, sagt Michael Mehlich. Die Höhe orientiere sich dabei an der Zeit bis zur nächsten Jahresrechnung: "In zwölf Monaten soll die Schuld abgetragen sein."
Im Ergebnis sind die von Arbeitslosengeld II und Sozialhilfe lebenden Haushalte auf Tafeln und Kleiderkammern angewiesen, bringen ihre Kinder ab dem dritten Tag des Monats nur noch Toast mit Marmelade zum Frühstück in die Kita mit - wenn überhaupt - und stehen in den letzten Tagen des Monats Nudeln mit Tomatensoße auf dem Speiseplan. "Da geht es ums Überleben und nicht um Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, was die Regelsätze eigentlich auch noch ermöglichen sollen", stellt Helmut Flötotto, Referatsleiter Soziale Arbeit im Diözesan-Caritasverband Münster, fest.
Der Grund dafür, dass die Hartz-IV-Haushalte immer tiefer in der Armutsspirale absinken, ist schon in der ursprünglichen Berechnungssystematik gelegt worden. Die Regelsätze und deren Erhöhung werden vom Einkommen der unteren 15 Prozent der Einpersonen- und 20 Prozent der unteren Mehrpersonenhaushalte abgeleitet und davon noch Bedarfe abgezogen, die als politisch nicht relevant erachtet werden, erklärt Flötotto: "Wir brauchen eine neue Berechnungsgrundlage, um zu Sätzen zu kommen, die tatsächlich ein würdevolles Leben und eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen."
cpm