Hauptsache Arbeit, oder was?
In Essen diskutierten jüngst Caritas-Experten, Wissenschaftler, Behördenvertreter und Engagierte, wie das Problem politisch, praktisch und sozialethisch anzupacken ist. Der Caritasverband Gütersloh hat hier eine Vorzeigerolle, engagiert er sich doch schon seit einigen Jahren vor allem in der Beratung und Betreuung von Arbeitskräften aus Rumänien und Bulgarien. Die sind oft in den industriellen fleischverarbeitenden Betrieben, wie beispielsweise der Firma Tönnies, eingesetzt. Das neue Arbeitsschutzkontrollgesetz, das infolge der öffentlichen Diskussion im letzten Jahr durchgesetzt werden konnte, war ein erster Schritt, es ist seit Anfang Januar in Kraft. Mehr und strengere Kontrollen, öffentliche Diskussionen, dazu niedrigschwellige Beratung sind weitere Maßnahmen zur Bekämpfung von Ausbeutung.
Der nordrhein-westfälische Arbeits- und Sozialminister Karl-Josef Laumann (CDU) hatte die früheren Erwerbslosenberatungsstellen für Erwerbslose umstrukturieren lassen. Seit Januar 2021 haben sie einen neuen Beratungsschwerpunkt im Bereich der Information und Beratung gegen Arbeitsausbeutung. 1200 Beratungen zum Thema Ausbeutung zählten die Beratungsstellen Arbeit nach ihrer Neuausrichtung.
Ausbeuterische Beschäftigungsverhältnisse funktionieren in Deutschland nicht über den Lohn, sondern über die Arbeitszeit. Die Betroffenen arbeiten in vielen Branchen: Reinigungskräfte in Hotels und Restaurants, Helfer in der Logistik, in Haushalten - auch bei der sogenannten 24-Stunden-Pflege - und die Erntehelfer auf den Erdbeer- und Spargelfeldern arbeiten und leben oft unter menschenunwürdigen Bedingungen.
Oft sind es Migranten, deren Arbeitszeit nur auf dem Papier steht. Formal erhalten sie den Mindestlohn, unter Berücksichtigung der tatsächlichen Arbeitszeit aber werden sie ausgebeutet. Das hat der NRW-Sozialminister als Problem zum Beispiel in der Fleischindustrie erkannt und im vergangenen Jahr durchgesetzt, dass die Arbeitszeit elektronisch erfasst wird. Dabei kann jetzt nicht mehr ganz so leicht betrogen werden. Doch muss man auch realistisch analysieren, dass sich zwar die Strukturen und Rahmenbedingungen geändert haben, aber die handelnden Personen oft dieselben sind wie vorher: Vorarbeiter, Schichtleiter etc. Dass viele Arbeitsmigranten die deutsche Sprache nur rudimentär oder gar nicht beherrschen und natürlich die Rechtslage nicht kennen, erschwert es ihnen, sich gegen ungerechte und ausbeuterische Beschäftigungsverhältnisse aufzulehnen. Wer’s Maul aufreißt, fliegt - so ist es häufig in der Wirklichkeit. Umso wichtiger sind Beratung und Unterstützung.
Bernhard Ulrich aus dem Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales (MAGS) kündigte auf der Caritas-Fachtagung weitere Maßnahmen an: konkret einen Rechtsberatungspool zur Stärkung der Beratungsstellen. Auch arbeite man an Strukturen, um das Schlepper-Unwesen auszutrocknen. Die Caritas wie die Freie Wohlfahrtspflege insgesamt seien wichtige Partner, auf deren Kooperation man setze. Gemeinsames Ziel sei die Stärkung der betroffenen Menschen. Ulrich berichtete von Anzeichen, dass das Arbeitsschutzkontrollgesetz Wirkung zeige. Man verzeichne verstärkt Versuche von Unternehmen, sich einer anderen Branche zuzuordnen, um dem Geltungsbereich des Gesetzes zu entkommen. Dann werde aus einem fleischverarbeitenden über Nacht ein fleischveredelnder Betrieb. Solche Umgehungsversuche müsse man natürlich beobachten und ggf. die Gesetzeslage nachschärfen.
Theo Arnoldus vom Christelijk Natio-naal Vakverbond (CNV), einem Gewerkschaftsbund aus den Niederlanden, berichtete auf der Tagung über grenzüberschreitende Leiharbeit. Dabei werden osteuropäische Arbeiterkolonnen in Deutschland untergebracht, zum Arbeiten fahren sie täglich über die Grenze in die Niederlande. Die unterschiedliche Rechtslage und fehlende oder schwierige Kooperation zwischen den Behörden der beiden Staaten erleichtern ausbeuterische Beschäftigungsverhältnisse. Arnoldus berichtete von entlassenen Arbeitern, die automatisch obdachlos wurden. Zum Teil leben obdachlos gewordene Menschen zu jeder Jahreszeit ohne Krankenversicherung und sozialen Schutz in den Wäldern beidseitig der Grenze. Es sei von teilweise kriminellen Strukturen auszugehen; wer sich zu sehr einmische, werde "verwarnt", sagte er. Das deutet auf mafiöse Strukturen hin, die neben dem Zoll auch andere Polizeidienststellen interessieren dürften.
Den Zusammenhang von atypischer Beschäftigung (befristet, geringfügig, in Teilzeit beschäftigt oder in Zeitarbeit) und prekärer Beschäftigung erklärte Timo Baas, Professor für Wirtschaftslehre an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg. Zehn Prozent der geringfügig Beschäftigten in NRW erhalten aufstockende Leistungen nach dem SGB II - das sei relativ viel, so Baas. Sein Fazit: Man sollte atypische Beschäftigungsformen reduzieren, um Armut zu bekämpfen.