Echt arm dran
Christoph Eikenbusch leitet die Abteilung Beratende Dienste, Gefährdetenhilfe, Integration beim Caritasverband für das Erzbistum Paderborn.
Vor 25 Jahren erteilte der Deutsche Caritasverband (DCV) einen Forschungsauftrag zu einer Armutsuntersuchung, die die Probleme des Systems der sozialen Sicherheit untersuchen sollte. Ergebnisse der Studie "Option für die Armen": Das Sozialleistungssystem in Deutschland ist zu kompliziert und für leistungsberechtigte Hilfeempfänger nicht durchschaubar. Es findet ein Verschiebebahnhof zwischen den Leistungserbringern statt. Die Zahl der Men-schen, die aus Unkenntnis oder aus Scham keine Sozialleistungen beantragen, ist beträchtlich. Der DCV-Zentralvorstand fordert "eine klare Prioritätensetzung für arme und sozial benachteiligte Menschen in allen Gremien, Einrichtungen und Aufgabenbereichen" der Caritas.
Jeder dritte Arbeitslose ist langzeitarbeitslos
Am 1. Januar 2005 trat das Gesetz über die Grundsicherung für Arbeitssuchende in Kraft. Einige Ergebnisse der sozialpolitischen Lobbyarbeit der Caritas zur Armutsbekämpfung finden sich bei der Sozialreform insbesondere bei der Zusammenlegung und Neustrukturierung von Leistungsgesetzen durchaus in Ansätzen wieder. Und auch die wirtschaftlichen Fortschritte in den letzten zehn Jahren lassen Deutschland im internationalen Vergleich gut dastehen: Die Zahl arbeitsloser Männer und Frauen ist seit 2005 von beinahe fünf Millionen auf weniger als drei Millionen gesunken, und die der arbeitslosen ALG-II-Empfänger hat sich seitdem von etwa 2,8 Millionen auf knapp 2 Millionen verringert. Erstmals ist Ende 2014 die Zahl der Erwerbstätigen auf mehr als 43 Millionen Menschen gestiegen.
Doch nach zehn Jahren zieht die Caritas eine kritische Bilanz. Immer noch leben viel zu viele Menschen schon viel zu lange von "Hartz IV". Immer noch gibt die Arbeitslosenstatistik nicht das wahre Ausmaß der Arbeitslosigkeit in Deutschland wieder. Jeder dritte Arbeitslose ist langzeitarbeitslos. Fünfzig Prozent der ALG-II-Empfänger beziehen die staatliche Hilfe schon seit mehr als vier Jahren. Die Kinderarmut in Deutschland hat sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt. Die Höhe der Regelsätze liegt unter dem, was ein Mensch zum Leben braucht. Das Bundesverfassungsgericht bezeichnete in einem Urteil in 2010 die Ausgestaltung der gesetzlichen Leistungsansprüche als verfassungswidrig.
Ein wesentlicher Baustein der Sozialreform sollte die Verwaltungsvereinfachung durch das Zusammenlegen von Sozialleistungen (Arbeitslosen- und Sozialhilfe etc.) werden. Und unter dem Motto "Fördern und Fordern" sollte durch passgenaue Förderinstrumente eine höhere Integrationsquote von Arbeitslosen in Arbeit erfolgen. Wer von dem Gesetz selbst nicht betroffen ist, findet es vielleicht gut, wenn Menschen als potenzielle Faulpelze betrachtet werden, die mit Sanktionen wieder zur Arbeitsaufnahme getrieben werden müssen.
Bürokratischer Moloch
Doch wer sich nicht nach dieser Logik marktkonform verhält, muss es aushalten, dass sein menschenwürdiges Existenzminimum gekürzt wird. Mit Hartz IV hat sich das Verhältnis von Staat und Leistungsberechtigten sowie von Bürgern zu Leistungsbeziehern gewandelt. Die ALG-II-Praxis wird vielfach als bürokratischer Moloch erlebt, wo der Mensch wie ein Uhrwerk zu funktionieren hat und jeder, der stört, zum Feind wird. Das Selbstwertgefühl von Menschen wird mit der Arbeitsmarktnähe und der Fähigkeit zur Arbeitsmarktintegration in Verbindung gebracht.
Gleichzeitig boomen niedrigschwellige existenzsichernde Hilfen (oft auf Almosenbasis). Der im Grundgesetz verankerte Sozialstaat zieht sich mit Hinweis auf karitative Tätigkeiten und den expandierenden Markt der Barmherzigkeit immer mehr aus der Verantwortung für die soziale Sicherung seiner Bürger zurück.
Sicherheitsdienste müssen in den Jobcentern für Ordnung sorgen, weil Mitarbeitende sich bedroht fühlen und Antragsteller aufgrund von fehlenden Ansprechpartnern und bürokratischen Hindernissen befürchten, die Leistungsansprüche nicht realisieren zu können. Die hohe Zahl der Widerspruchsverfahren, die zugunsten der Antragsteller entschieden werden, wird vielfach als Indiz für Willkür und Leistungsverweigerung erachtet.
Obwohl in den vergangenen Jahren einige Reförmchen (Bildungs- und Teilhabegesetz etc.) halbherzig auf den Weg gebracht wurden, sind die Entwicklungschancen von Kindern in Deutschland weiterhin von der Herkunft bzw. dem Bildungsgrad der Eltern abhängig. Trotz des demografischen Wandels und des Fachkräftemangels wird Kinderarmut nicht ausreichend bekämpft. Kinder und Eltern fühlen sich durch die Untätigkeit der politisch und gesellschaftlich Handelnden gesellschaftlich ausgegrenzt und der Zukunftschancen beraubt.
Die Zurückhaltung der jetzigen und vorherigen Regierung bei der Bewilligung von arbeitsmarktpolitischen Förderprogrammen lässt darauf schließen, dass man sich mit einer Zahl von nicht in Arbeit zu vermittelnden Menschen abfindet. Dies würde heißen, dass dieser Menschengruppe auch keine gesellschaftliche Teilhabechance mehr zugesprochen wird.
Dieser Tendenz tritt die Caritas entschieden entgegen.