Sport ist ein soziales Bindemittel
Caritas in NRW Wir erleben Kriege, einen ungebremsten Klimawandel und sehen immer mehr Menschen auf der Flucht. Welche Rolle spielt angesichts kollektiver Krisenerfahrungen der Sport?
Ansgar Thiel: Viele Menschen haben das Gefühl, die Welt drifte immer mehr auseinander. In einer Welt mit vielen unterschiedlichen Zentren, die scheinbar nicht mehr zusammenpassen, bewegen wir uns in einzelnen Blasen. Wir kriegen wenig mit von anderen. Menschen glauben, sie sind nicht mehr mit dem großen Ganzen verbunden. Hinzu kommt: Unsere Gesellschaft ist durch einen Bedeutungsverlust der Kirchen und von Religion gekennzeichnet, es mangelt also an einem kollektiven Sinn.
Caritas in NRW: Und da kommt der Sport ins Spiel?
Ansgar Thiel: Ja, Sport und Bewegung haben mit Bezug auf unterschiedlichste gesellschaftliche Herausforderungen eine sinnstiftende Funktion - sowohl kollektiv als auch individuell. Bei den großen Sportereignissen identifiziert man sich mit einer Mannschaft, einer Nation oder einem "Local Hero". Auch das gemeinsame Sporttreiben mit anderen ist immer sinnstiftend. Es strukturiert mir meinen Alltag, gibt mir etwas, worauf ich mich freuen kann. Es schafft Verbindungen zu anderen und ein Gefühl der Zugehörigkeit.
Caritas in NRW: Der Sport hat die Religion als sinnstiftendes Medium abgelöst?
Ansgar Thiel: Individueller Sinn beantwortet nicht die großen Grundfragen des Lebens, das schafft eher eine Religion. Der Sport funktioniert im Grunde viel einfacher: Was mache ich am Tag? Worauf lebe ich hin in der Woche? Warum lohnt es, morgens aufzustehen, mich für etwas anzustrengen? Konkret gesagt: Als Mitglied eines Vereins, etwa des TV Derendingen bei Tübingen, bin ich Teil dieses Vereins. Ich gehöre einfach dazu. Das elementare Gefühl von Zugehörigkeit umschließt alle Handlungen, die ich in diesem Kontext ausführe: Ich nehme mich als zugehörig wahr, wenn ich andere Mitglieder des Vereins sehe oder wenn ich auf dem Fußballplatz bin. Ich kann mich ehrenamtlich engagieren oder mit anderen über die Ergebnisse der ersten Mannschaft sprechen. Man fühlt sich als Teil von etwas Größerem. Das hängt schon damit zusammen, dass andere Identifikationsbereiche an Bedeutung verlieren.
Caritas in NRW: Das gibt es doch aber auch bei Popstars - Beispiel Taylor Swift. Die "Swifties" mit ihrer Fankultur sind Teil einer großen Masse. Was kommt beim Sport noch hinzu?
Ansgar Thiel: Ein Swiftie zu sein, unterscheidet sich mit Blick auf die Herstellung von Zugehörigkeit zu einer Gruppe vom Prinzip her nicht sehr stark davon, ein Fan einer Fußballmannschaft zu sein. Der Unterschied ist neben dem Identifikationsthema vielleicht, dass die Fangemeinde einer Fußballmannschaft mehr gesellschaftliche Milieus und mehr Altersgruppen umfasst und wohl auch langlebiger ist. Ich denke aber, dass der Sport besondere soziale Funktionen hat, die andere Gemeinschaften nicht in gleichem Maße bieten und die in der heutigen in vielen Bereichen digitalisierten Welt voller Krisenerfahrungen und voller Zerklüftung besonders relevant sind. Dazu gehört etwa das Treffen mit anderen Menschen in Präsenz, und das über einen längeren Zeitraum: der Körperkontakt, die Notwendigkeit, in der sportlichen Interaktion Gesichter und Körpersprache zu lesen, also nicht nur statische Bilder zu interpretieren wie auf Instagram.
Caritas in NRW: Geht es dabei vor allem um Teamsportarten?
Ansgar Thiel: Vor allem Mannschaftssportarten sind einfach zugänglich. Fußball ist auf der ganzen Welt bekannt, überall gelten die gleichen Regeln. Ethnie, Sprache, politische und religiöse Überzeugungen - all das tritt in den Hintergrund. Viele assoziierende Rituale sind typisch für Mannschaftssportarten. Man gibt dem Gegner die Hand, wenn er auf dem Boden liegt. Man schießt den Ball ins Aus, wenn sich jemand verletzt hat. Die jeweilige Mannschaft putscht sich vor dem Spiel im Kreis hoch, man jubelt gemeinsam, tröstet sich. Alle diese Dinge findet man in keinem anderen Gesellschaftsbereich so ausgeprägt.
Caritas in NRW: Aber was, wenn das Spiel zu Ende ist? Haben diese Rituale und Regeln auch über den Sport hinaus Bestand?
Ansgar Thiel: Es ist empirisch sehr gut nachgewiesen, dass Menschen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen, die gemeinsam Sport treiben, eher bereit sind, den jeweils anderen zuzuhören, auch wenn sie aus einer anderen Region der Welt kommen, andere religiöse oder politische Überzeugungen haben. Es besteht ein größeres Grundverständnis, weil es eine gemeinsame Sache gibt, die verbindet und für alle gemeinsam Sporttreibenden sichtbar ist.
Caritas in NRW: Klingt, als bleibe nur der Sport, um die Gesellschaft zu einen. Verlangen wir ihm da nicht zu viel ab?
Ansgar Thiel: Im Gegenteil, man hat es eigentlich noch gar nicht richtig ausgenutzt. Der Sport hat Regeln, die beachtet werden müssen. Sozialerziehung, Gemeinschaftserziehung - das läuft quasi nebenher. Wenn ein Kind beim gemeinsamen Fußballspiel Regeln nicht beachtet, spielt keiner mehr mit ihm. Das kapieren schon die Sechsjährigen. Viele Kinder weinen zunächst einmal, wenn sie verlieren, aber sie lernen, damit umzugehen. Und weil diese Sozialisationsergebnisse nebenher erzielt werden, wird der Sport auch nicht überfrachtet. Kinder lernen auch, dass sie keine Gewalt gegenüber anderen ausüben dürfen, weil entweder die anderen Kinder oder die Trainerinnen und Trainer sie dann nicht mehr mitspielen lassen.
Caritas in NRW: Aber wir erleben doch gerade im Amateurfußball, dass Schiedsrichter attackiert oder Eltern gewalttätig werden.
Ansgar Thiel: Sport ist kein Wundermittel ohne Negativbeispiele. Und gerade über den Amateurfußball wird natürlich häufig Negatives berichtet. Und es stimmt, Eltern, die ihren Kindern beim Fußball zuschauen, verhalten sich nicht selten anders, als sie sich bei ihren Freunden verhalten würden. Und es gibt auch gewaltsame Auseinandersetzungen auf dem Platz. Aber man darf nicht vergessen, dass dies alles nicht den Normalfall darstellt. Die meisten Eltern verhalten sich sehr friedlich. Und bei denjenigen, die spielen, ist totales Ausflippen eher die Ausnahme - und das wird in der Öffentlichkeit dann auch noch sehr breitgetreten. Das spricht aber nicht gegen die sozial-integrative Funktion des Mannschaftssports.
Caritas in NRW: Noch mal nachgehakt: Wo sind die Grenzen des Sports, wenn es um Integration geht?
Ansgar Thiel: Manche Sportpädagogen haben früher gesagt, der Sport werde instrumentalisiert, er solle für sich stehen und zweckfrei sein. Ich finde diese Diskussion nicht sehr zielführend. Natürlich bekommt der Sport - ähnlich wie die Schule - immer mehr Funktionen zugeschrieben: soziale, integrative, gesundheitsförderliche, demokratieförderliche. Aber man muss hier differenzieren: Die genannten Funktionen beschreiben Sekundäreffekte. Das sportliche Handeln beispielsweise im Wettkampf lebt von sich selbst. Menschen, die gegeneinander in Wettkämpfen antreten, denken im sportlichen Tun nicht primär daran, ob ihnen das guttut oder ob sie sozial integriert werden. Die Sekundäreffekte lassen sich auch nicht überall in gleichem Maße beobachten. Je härter der Wettkampf, je höher das Niveau, desto weniger relevant sind gesundheitsförderliche und sozial-integrative Wirkungen. Und je höher das Wettkampfniveau, desto mehr rückt an die Stelle des sozialen der sogenannte funktionale Zusammenhalt. In der Welt des Spitzensports gibt es nicht wenige Beispiele, dass Spieler aus der gleichen Mannschaft sich überhaupt nicht leiden können, aber sehr gut miteinander spielen. Das heißt nicht, dass der Sport nicht mit Erwartungen überfrachtet würde, beispielsweise wenn der Spitzensport die Welt besser machen soll, damit wir weniger Vorurteile, weniger Konflikte oder weniger Rassismus erleben.
Caritas in NRW: Ist der Sport auch deshalb in eine besondere Rolle gedrängt worden, weil andere gesellschaftliche Institutionen versagen?
Ansgar Thiel: Wir haben in Deutschland ein Bildungsproblem. Die Statistiken zeigen, dass auch aufgrund zunehmender Heterogenität in Schulklassen und sprachlicher Probleme die Leistungen drastisch abnehmen. Darauf könnte man mit individuell angepassten digitalen Unterstützungs- und Lernsystemen reagieren, woran die Forschung auch schon arbeitet. Das Problem an solchen "Bildungstechnologien" ist aber, dass andere Aspekte dabei marginalisiert werden: Zeitstrukturierung, Sozialverhalten, Sanktionen bei Störverhalten. Für die Sicherung von Lernprozessen in diesen Zusammenhängen braucht die Schule den Sport …
Caritas in NRW: … der die Kinder außerdem noch in Bewegung bringen könnte …
Ansgar Thiel: Ja! In computergesteuerten Unterrichtssituationen sitzen Kinder die ganze Zeit. Unsere Welt ist eine Sitzwelt, was aus gesundheitlicher Sicht hochproblematisch ist. Wir müssen damit rechnen, dass die chronisch degenerativen Erkrankungen im Alter zwischen 40 und 50 massenhaft zunehmen - statt wie bisher zwischen 65 und 80.
Caritas in NRW: Wie können wir dieser Entwicklung entgegentreten?
Ansgar Thiel: Mein Plädoyer: Macht Schulen zu Ganztagsschulen, bei denen der gesamte Nachmittag in einem sportiven Bewegungssetting stattfindet. Nicht unbedingt klassischer Sportunterricht oder wettkampforientierter Sport, sondern bedürfnis- und neigungsgerecht zugeschnitten auf unterschiedliche Populationen. Das ist ja das Schöne an Sport und Bewegung: Das ist wahnsinnig breit, es muss nicht leistungsorientiert sein, sondern kann auch ganz anders organisiert und strukturiert sein.
Caritas in NRW: Wie ist die Resonanz auf solche Forderungen, die ja durchaus den Kern der Bildungsdiskussion tangieren?
Ansgar Thiel: Mit uns redet kaum jemand. Wir gehören zu den weltbesten Universitäten im Bereich Sport, Bewegung und Gesundheit, aber es gibt kaum Nachfragen aus dem Schulministerium. Wenn es Resonanz gibt, dann redet man in der Regel über einen "klassischen" Sportunterricht, aber nicht über die Frage, wie wir Ganztagsschule so gestalten, dass wir genau diese Sozialisationseffekte, die durch Digitalisierung, Individualisierung und Parzellierung von Gesellschaft verloren gegangen sind, wieder reinholen können. Dabei könnten wir viele Lösungen bieten. Wir haben ein Sportwissenschaftsstudium für das Lehramt konzipiert, in dem wir Profis ausbilden wollen, die einerseits Sportunterricht geben, aber auch professionell einen Ganztag organisieren können - und zwar nicht wie ein Übungsleiter, sondern mit bewegungs- und sportbezogenen Bildungsmaßnahmen zur Kompensation von Folgeproblemen gesellschaftlicher Entwicklung.
Caritas in NRW: Die Caritas beschäftigt zunehmend das Problem der Vereinsamung in unserer Gesellschaft. Welche Rolle könnte hier der Sport spielen?
Ansgar Thiel: Eine extrem große. Beispielsweise müssen wir mit der Alterung der Gesellschaft auch einen erheblichen Anstieg an Vereinsamung erwarten. Der demografische Wandel ist ohnehin eine der größten gesellschaftlichen Herausforderungen, und er wird viel zu wenig thematisiert. Wenn die Babyboomer in Rente gehen und in ein pflegebedürftiges Alter kommen, bricht alles aus allen Nähten. Das weiß man seit Mitte der 80er-Jahre, doch in den Wahlkämpfen hören Sie immer noch fast gar nichts über die demografische Alterung. Aber noch mal zur Vereinsamung: Wir hatten ein Forschungsprojekt mit Pflegeheimen und haben beobachtet, wie häufig sich die Bewohnenden bewegen.
Caritas in NRW: Was haben Sie herausgefunden?
Ansgar Thiel: Den absolut größten Teil des Tages verbringen Menschen im Pflegeheim sitzend und sozial isoliert. Sozialkontakte und Bewegung sind meistens an das Essen gekoppelt: hinlaufen oder zurücklaufen. Während Corona hat man gesehen, wie schlimm das ist, wenn die Besuche nicht stattfinden, die dafür sorgen, dass die Alten sich ein bisschen mehr bewegen. Pflegeheime haben auch aufgrund der Personalausstattung und der baulichen Struktur vereinsamende Mechanismen. Nicht die Menschen vereinsamen, sondern die Einrichtungen vereinsamen die Menschen.
Caritas in NRW: Was könnte man auf die Schnelle ändern?
Ansgar Thiel: Studien zeigen, dass sogar 90-Jährige, die weitgehend immobil sind, durch systematische Aktivierung noch Trainingseffekte erzielen. Wenn Sie die Menschen beim Waschen aus dem Bett nehmen und Bewegungsförderung in diesen Vorgang integrieren - dann können Sie wahnsinnige Effekte erzielen. Wenn sich diese Menschen wieder besser bewegen können, sind sie auch eher in der Lage, mit anderen zu interagieren. Bewegung und soziale Interaktion müssen in den Alltag integriert werden. Doch das fehlt in der Philosophie der meisten Heime weitgehend. Je älter ich werde, desto mehr denke ich: Oh Gott, hoffentlich muss ich da nie rein. Pflegekräfte sind heute schon absolut überlastet, und wenn die vielen Babyboomer hochaltrig werden, dann wird das noch schlimmer. Ich hoffe wirklich: Hoffentlich gibt es bald Roboter, die einen pflegen und zu sozialer Interaktion animieren.
Caritas in NRW: Wie sehen Sie die Bewegungssituation in den Kindergärten?
Ansgar Thiel: Auch dort ist Bewegung ganz elementar. Im Kindergartenalter läuft die Kommunikation vor allem über Bewegung. Kommunikation geschieht nonverbal, auch weil das Vokabular noch gar nicht so groß ist. Hinzu kommt: Die Zunahme von Umweltreizen beispielsweise durch Smartphones führt vermehrt auch zu Verhaltensproblemen bei ganz normalen Kindern. Schon kleine Kinder gucken in die Geräte, schauen Videos und werden regelrecht reizüberflutet. Und das in einem unbewegten, passiven Zustand. Den natürlichen Bewegungsdrang leben sie zu wenig aus. Der Caritas würde ich generell raten, möglichst viele Bewegungsgelegenheiten in den unterschiedlichen Kontexten, in denen sie tätig ist, zu schaffen. Aber die Caritas braucht auch Profis, zum Beispiel Sportbeauftragte, die in der Lage sind, solche Konzepte zu entwickeln oder umzusetzen.
Caritas in NRW: Wie reagiert die Politik auf all diese schlüssig klingenden Konzepte?
Ansgar Thiel: Wir sind in Deutschland im internationalen Vergleich in der Forschung relativ weit, aber unsere vorhandenen Konzepte werden viel zu wenig nachgefragt. Möglicherweise fehlt in den Kultusministerien die Fantasie, solche Konzepte einzufordern und Stellen für Profis der Bewegungsförderung in den Bildungseinrichtungen zu schaffen. Dabei können wir als Uni wirklich viel zur Bewältigung des Bewegungsmangelproblems beitragen. An der Deutschen Sporthochschule forschen und lehren Expertinnen und Experten aus verschiedensten Teildisziplinen, von der Molekularbiologie über die molekulare Medizin bis zur Philosophie - alles mit Bezug zu Sport und Bewegung. Wir könnten eine solche Ausbildung also locker leisten.
Caritas in NRW: Immerhin gibt es ja mit Christiane Schenderlein (CDU) eine Sportministerin auf Bundesebene?
Ansgar Thiel: Ich bin gespannt, ob sie zu uns Kontakt aufnimmt. Ich denke, die Leute hier könnten den Menschen, die im Sportministerium tätig sind, sicher viel nützliches Wissen über die Hintergründe von Sport und Bewegung vermitteln.
Caritas in NRW: Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führten Markus Harmann und Markus Lahrmann.