Austausch über europäische Sozialpolitik
Paderborns Diözesan-Caritasdirektor Josef Lüttig erläuterte zunächst Aufbau und Arbeitsweise der fünf nordrhein-westfälischen Diözesan-Caritasverbände als Wohlfahrtsverbände der katholischen Kirche und Spitzenverbände rechtlich selbstständiger Träger. Die Caritas, betonte Lüttig, setze sich für eine demokratische, gerechte Gesellschaftsordnung ein, die Menschenrechte und soziale Teilhabe sicherstellt. Dazu und in diesem Sinne gestalte die Caritas Politik mit und suche - selbst parteipolitisch neutral - die gute Kooperation mit allen Parteien, die diese Werte achten.
Özlem Alev Demirel stellte sich selbst als fundierte Kennerin der strukturellen und politischen Gegebenheiten in NRW vor, die sie als Landesvorsitzende der LINKE wie als ver.di-Gewerkschaftssekretärin erworben hat. Inhaltlich gibt sie einen Überblick über die soziale Lage aus ihrer Perspektive:
Die Armut in Europa ist ungebrochen hoch. Aktuell sind 93 Millionen Menschen in der EU von Armut bedroht; das ist jeder fünfte Erwachsene und jedes vierte Kind. Demirel spricht von steigenden Mietpreisen und einem Anstieg an Obdachlosigkeit. Sie sieht die Menschen, die in Brüssel jeden Tag aus Mülltonnen Flaschen hervorziehen, um mit dem Pfandgeld ein wenig ihre Einnahmen aufzubessern; sie sieht die Menschen, die in Düsseldorf auf der Straße die Obdachlosenzeitung verkaufen.
Das Thema Erwerbstätigenarmut bewegt Demirel besonders. Die einstige "EU-2020-Strategie", die die Zahl der Armen in Europa bis 2020 um 20 Millionen Menschen reduzieren wollte, ist kläglich gescheitert. In vielen Staaten der EU liegen Mindestlöhne nicht über der Armutsschwelle, auch nicht in Deutschland, deshalb, sind viele Menschen arm trotz Arbeit und Mindestlohn, auch in Deutschland, gerade Familien. Eine weitere Ursache für Erwerbstätigenarmut ist die zurückgehende Tarifbindung. Immer mehr wird Gewerkschaften der Zugang in Betriebe erschwert, die Arbeit von Betriebsräten wird unterminiert. Auf Europäischer Ebene brauche es deshalb gemeinsame Mindeststandards in den Mitgliedsstaaten für Mindestlohn wie für Mindestsicherung; hier sei jetzt die Kommission am Zug, so ihre Forderung.
Sogar der jüngste UN-Sozialbericht zeigt auf, dass in Europa die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinanderdriftet. Frau Demirel ist wichtig, dass die Lasten der in Kürze anstehenden wirtschaftlichen Bewältigung der Corona-Krise nicht auf Arme und Beschäftigte abgewälzt werden. Deshalb steht bei ihr das Thema Mindestlohn ziemlich oben auf der Agenda. EU-Kommissar Nicolas Schmit, zuständig für Beschäftigung und soziale Rechte, hat eine Direktive zum Mindestlohn vorgeschlagen (Richtlinienvorschlag über angemessene Mindestlöhne in der EU vom 28.10.2020); dazu gab es bereits eine erste Anhörung im Europäischen Parlament.
Frau Demirel ist für den zuständigen Beschäftigungsausschuss des Europäischen Parlaments die Schattenberichterstatterin für DIE LINKE zu diesem Richtlinienvorschlag. Für sie ist zentral, dass Mindestlöhne nicht unter der Armutsgrenze liegen; die Armutsgrenze ist für sie eine "Schwelle der Würde". Beziffern ließe sich das in etwa mit 60% des Median- und 50% des Durchschnittseinkommens des jeweiligen Landes. Bisher gibt es nur zwei Länder in der EU, deren Mindestlohn über dieser Schwelle liegt (u. a. Portugal). In Deutschland müsste der Mindestlohn demnach zwischen 12 und 13 Euro liegen.
Ein wichtiges Ziel ist für sie im Moment die Erhöhung der Tarifbindung in den Mitgliedsstaaten. Tarif meint ja mehr als nur die Regelung der Lohnhöhe, es geht auch um Urlaubsregelungen, Arbeitsschutz etc. Frau Demirel setzt sich dafür ein, dass Tarifbindungen in Vergaberichtlinien stärker berücksichtigt werden; u.a. durch eine kluge Regelung des Vergaberechts können und müssen Arbeitnehmer_innenrechte und soziale Standards gestärkt werden.
Ein großes Manko war es, so Frau Demirel, in der EU einen großen Binnenmarkt zu schaffen, der die Freiheit von Waren, Kapital und Dienstleistungen garantiert, ohne gleichzeitig auch soziale Standards für diesen Markt zu verankern. Mit der 2017 proklamierten Europäischen Säule Sozialer Rechte und ihrer nun anstehenden Umsetzung in einem Aktionsplan wurden erstmals Schritte unternommen, um auch das "Soziale Europa" verbindlicher in den Blick zu nehmen. Damit sind positive, zum Teil sogar messbare Ziele formuliert, doch das allein reicht nicht, wenn die Instrumente fehlen, die die EU zur Umsetzung beschreibt und den Mitgliedsstaaten an die Hand gibt. Lücken sieht Frau Demirel etwa im EU-Recovery-Fonds (750 Mrd. € zum wirtschaftlichen Wiederaufbau in der post-pandemischen Phase ab 2021), der Digitalisierung und Klimaschutz ("green deal") als Zielvorgaben kennt, aber sozialpolitische Komponenten nur am Rande erwähnt.
Anne Wagenführ, Leiterin der Hauptvertretung Brüssel des Deutschen Caritasverbandes (DCV), teilt die Einschätzung von Frau Demirel, dass der Aktionsplan zur Umsetzung der Europäischen Säule Sozialer Rechte allein keine adäquate Nachfolgestrategie der EU-2020-Strategie ist. Immerhin enthält der Aktionsplan messbare Ziele; die Caritas ist insbesondere über das Ziel froh, die Zahl der von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedrohten Menschen zu reduzieren. Das hier auch eine konkrete Zahle zur Bekämpfung der Kinderarmut genannt wird, wird ebenfalls begrüßt. Hier sind wir als Caritas wichtiger Akteur und gerne Partner der Politik.
Neben gerechten Mindestlöhnen ist der Caritas das Engagement für einen rechtsverbindlichen EU-Rahmen für nationale Grundsicherungssysteme ("Mindestsicherung") ein großes Anliegen. Die Europäische Säule Sozialer Rechte proklamiert u.a. das Recht jeder Person auf angemessene Grundsicherungsleistungen. Hier hätte sich der DCV rechtlich verbindlichere Instrumente zur Umsetzung gewünscht als nur eine für 2022 geplante Ratsempfehlung. Die Corona-Krise hat viele in die Arbeitslosigkeit gebracht, eine weitere Verschärfung der Lage ist zu befürchten. Diesen Menschen helfen Mindestlöhne nicht; die Corona-Krise markiert neu die Notwendigkeit einer Mindestsicherung.
Frau Wagenführ sieht, dass es wichtig wäre, mit Blick auf die post-pandemische Phase schon jetzt Digitalisierung, Klimaschutz und Soziales als gleich wichtige und verbundene Herausforderungen der EU-Recovery-Strategie zu begreifen und die Fonds in diesem Sinne zu nutzen. Keinesfalls darf Soziales gegen Klimaschutz ausgespielt werden. Ein großes Problem für die Caritas in Deutschland in der nächsten EU-Förderphase 2021-2027 wird die Absenkung der EU-Kofinanzierungssätze sein. Die niedrigen Kofinanzierungssätze (Deutschland: 40 Prozent in stärker entwickelten Regionen, 60 Prozent für Übergangsregionen), wie sie in der Horizontalen Verordnung festgeschrieben sind, müssen zumindest für die Programme, die sich an benachteiligte Zielgruppen richten und somit direkt zur Umsetzung der Europäischen Säule Sozialer Rechte beitragen, mit nationalen Mitteln ausgeglichen werden. Insbesondere gemeinnützige Projektträger, aber auch Kommunen, können diese Kofinanzierungssätze nicht ausgleichen.
Aus Sicht der Caritas in NRW lenkt Andrea Raab bei der Diskussion um das soziale Europa den Blick auf die wichtige Rolle der gemeinnützigen Sozialwirtschaft. In Deutschland gehören hierzu große Träger von stationären Einrichtungen wie Krankenhäusern und Altenheimen, aber auch etliche kleinere Vereine, die sich z. B. um Gemeinwesenarbeit, Sozialberatung, Interkulturelle Öffnung oder Jugendzentren kümmern. Der in Erarbeitung befindliche EU-Aktionsplan für die Sozialwirtschaft muss deren besondere Rolle würdigen, nicht zuletzt, weil sie Teil der aktiven, demokratischen europäischen Zivilgesellschaft ist. Über die gemeinnützige Sozialwirtschaft werden wesentlich Teile der sozialen Infrastruktur bereitgestellt, ohne die soziale Rechte etwa auf Gesundheitsversorgung, Kinderbetreuung, Langzeitpflege oder Inklusion nicht realisiert werden können. Die Caritas versteht sich in diesem Sinne als Teil der gemeinnützigen Sozialwirtschaft und der sozial engagierten Zivilgesellschaft in Europa. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss hat im September 2020 eine Stellungnahme zur Stärkung gemeinnütziger Sozialunternehmen verabschiedet, die im EU-Aktionsplan für die Sozialwirtschaft Berücksichtigung finden sollte.