Zwischen Treppen und Shops, Fahrplan-Schaukästen und Gleisen haben an diesem Samstag vor Weihnachten Monika Kolczyk und Marian Mauritz zwei Stunden Dienst. Die Endfünfzigerin und der junge Mann mit geistiger Behinderung arbeiten seit zwei Jahren zusammen für die weit über 100. 000 Fahrgäste eines Samstags. Der jährliche Advents-Basar im Bahnhofsgebäude dient auch der Information über die Arbeit aller Haupt- und Ehrenamtlichen der Bahnhofsmission.
Das Inklusions-Projekt entstand, als Josef Dahmann, mit Ludger Lang in einem zweiten Tandem am Hauptbahnhof aktiv, 2013 in Erfurt auf Dr. Gisela Sauter-Ackermann traf. Der Leiterin der deutschlandweiten Konferenz kirchlicher Bahnhofsmissionen berichtete der 50-Jährige von seinem Ehrenamt-Einsatz im Essener Kulturhauptstadtjahr. Die Erfurter Begegnung beim Frühstück war die Geburtsstunde des bundesweit vorbildlichen Inklusions-Projekts der Bahnhofsmission. Sauter-Ackermann wollte so patente Menschen wie Josef auch für Einsätze bei Bahnhofsmissionen gewinnen. So entwickelte sie mit dem Essener Behindertenreferat der Evangelischen Kirche das Projekt.
"Keine Treppen zu laufen ist Vorschrift."
Zurück nach Essen. "Es ist nötig, auch Fragezeichen in den Gesichtern der Menschen an den Bahngleisen zu lesen", berichtet Marian Mauritz am Bahnsteig. "Man muss auf abwartende Reisende zugehen." Monika Kolczyk, seine Tandem-Partnerin, stimmt dem zu. Nachdem beide die alte Dame zum noch vorhandenen Anschluss auf Gleis 2 nach Köln geleitet haben, fahren die Helfer zur Ankunft eines weiteren Zugs auf dem Nachbarbahnsteig.
Auf der Rolltreppe sind sie in den blau leuchtenden Uniform-Jacken mit dem Stern-Logo der Bahnhofsmission leicht identifizierbar. "Keine Treppen zu laufen ist Vorschrift. So fallen wir deutlich besser auf", berichtet Marian. Auf solche Dinge, auf den Umgang mit Menschen oder die Handhabung von besonderen Kartenautomaten wurden Marian und andere "Neue" 2013¬ vorbereitet. Nach der Schulung im Haus der Evangelischen Kirche und zwei Probeeinsätzen startete dann die erste Zwei-Stunden-Schicht für die Tandems.
"Jeder Mensch kann hier seine individuellen Talente einbringen."
Wenig entfernt im Büro blickt Ulrike Peine, Leiterin der Bahnhofsmission, auf den Start des Projekts zurück. "Als die evangelische Kirche bei meinem Vorgänger anfragte, war klar, dass wir Menschen mit leichten Handicaps im lauten, manchmal krisenanfälligen Bahnhofsumfeld nicht überfordern wollten." Der von allen befürwortete Einsatz, entschied die Bahnhofsmission, mache andererseits nur im echten Alltagsbetrieb Sinn. Die Lösung waren die Zweier-Teams. Peine: "Sie sicherten Gleichberechtigung im Dienst und zugleich Rücksicht auf verschiedenartige Handicaps unserer neuen Ehrenamtlichen."
Mittlerweile steht für die Bahnhofsmission fest, dass das zuerst auf ein Jahr angelegte Projekt Zukunft hat, zeigt es doch deutlich: "Jeder Mensch kann seine individuellen Talente einbringen, das macht eine starke Gemeinschaft, wie die der Bahnhofsmission Essen, aus", so das Resümee der Leiterin.
"Reisende werden auf Inklusion aufmerksam."
Auch Ulrike Pfaff, Pressereferentin der Aktion Mensch, Förderer des Projekts im Startjahr, sieht die Inklusions-Teams als Beitrag, der weiterführt und überzeugt. "Es ist gelungen, Menschen mit Behinderung den Weg ins Ehrenamt zu eröffnen. Reisende werden auf Inklusion aufmerksam, sie erleben den selbstverständlichen Umgang von Menschen mit und ohne Handicaps."
Knapp zwei Jahre nach seinem ersten Einsatz zieht Marian seine persönliche Bilanz. "Der Bahnhof gehört an Dienst-Samstagen fest zu meinem Wochenende." Die Begegnung am Bahnsteig macht dem menschenzugänglichen jungen Mann Freude. Er ist Bahn-Fan, nicht nur, was Fahrpläne, Züge und Technik angeht, geworden. "Parallel zum Dienst ist der Zusammenhalt in unserem Team gut, es wird viel gelacht." Ob er sich nach zwei Jahren Bahnhofsmission auch andere ehrenamtliche Aufgaben vorstellen kann? Marian lacht. "Ich will weiter Helfer am Gleis und auf dem Weg zu anderen Zügen sein." uw