Zur Haftung von Ärzten, Apothekern und Angehörigen der Heilberufe wegen grober Fehler
Oberlandesgericht Köln, Urteil vom 07.08.2013 - 5 U 92/1207.08.2013
Der Kläger wurde am 02.06.2006 mit einem Down-Syndrom und einem Herzfehler geboren. Er wurde am 06.07.2006 aus der Klinik in die ambulante Therapie entlassen, wobei eine Herzoperation für den September 2006 geplant war. Die Klinik übersandte dem Beklagten zu 1), der als niedergelassener Kinderkardiologe tätig ist, eine Medikamentenliste für die Behandlung des Klägers. Diese enthielt unter anderem das Medikament Lanitop, ein digitalishaltiges Präparat zur Stärkung der Herzfunktion, mit der auf dieses Medikament bezogenen Angabe "2 x 1 Tropfen".
Eine Mitarbeiterin des Kinderkardiologen bereitete für die Mutter des Klägers noch am 06.07.2006 ein Rezept für den Kläger vor, das der Kinderkardiologe auch unterschrieb. Dieses wies Namen und Geburtsdatum des Klägers aus und enthielt die Angabe insgesamt dreier Medikamente, darunter auch des Medikamentes Lanitop mit dem Zusatz "50 Tbl." (also Tabletten). Tabletten enthalten die gegenüber Tropfen achtfache Dosierung des Digitaliswirkstoffes und sind nur für Erwachsene und Heranwachsende vorgesehen. Die Mutter des Klägers löste das Rezept in der Apotheke des Beklagten zu 2) ein, dem die Situation des Klägers bekannt war und dem auch die Medikamentenliste der Klinik vorlag. Seine Mitarbeiterin händigte ihr 50 Tabletten aus, wofür eine Packung, die es nur in der Größe von 100 Tabletten gab, geteilt werden musste. Sie empfahl der Mutter des Klägers, die Tabletten aufzulösen und dem Kläger einzuflößen.
Vom 06.07.2006 bis zum Abend des 09.07.2006 wurde dem Kläger jeweils morgens und abends eine aufgelöste Tablette des Medikamentes Lanitop verabreicht (insgesamt sieben Mal). In der Nacht vom 09. auf den 10.07.2006 traten bei dem Kläger Krämpfe, hohes Fieber und ein aufgeblähter Bauch auf. Er wurde notfallmäßig in eine Klinik aufgenommen. Dort kam es zu einem Herzstillstand mit nachfolgender Reanimation über einen Zeitraum von 50 Minuten mit Intubation, Herzdruckmassage und Defibrillation. Eine offene Bauch-Operation wegen heftiger Bauchschmerzen ergab eine Entzündung weiter Teile des Dünndarms. Über eine Dauer von 11 Tagen war eine künstliche Beatmung erforderlich.
Bei dem Kläger liegt ein erheblicher Entwicklungsrückstand vor. Nach den Berichten des Familienzentrums K. und der LVR-Klinik B. war er im Alter von fünf Jahren noch nicht in der Lage, zu sprechen, zu laufen oder selbständig zu essen.
Auf geltend gemachte Schadensersatz- und Schmerzensgeldforderungen des Klägers haben die Beklagten bislang 5.000 Euro gezahlt.
Der Kläger hat behauptet, er habe durch den erlittenen Herzstillstand als Folge der grob fehlerhaften Tabletteneinnahme einen hypoxischen Hirnschaden erlitten, der für seinen Entwicklungsrückstand verantwortlich sei.
Er hat beantragt, die Beklagten zu verurteilen, an ihn u. a. ein in das Ermessen des Gerichts gestelltes Schmerzensgeld, mindestens jedoch 200.000 Euro zu zahlen und festzustellen, dass die Beklagten gesamtschuldnerisch verpflichtet sind, dem Kläger allen weiteren, derzeit nicht absehbaren materiellen Folgeschaden zu ersetzen, der ihm durch das fehlerhafte Handeln der Beklagten entstanden ist und in Zukunft noch entstehen wird.
Die Beklagten haben beantragt, die Klage abzuweisen.
Sie haben bestritten, dass ihnen ein grober Fehler vorzuwerfen sei. Vielmehr stelle sich das Verhalten beider als "Augenblicksversagen" dar. Außerdem sei der hypoxische Hirnschaden nicht auf die Vergiftung zurückzuführen. Eine etwaige Entwicklungsverzögerung sei als Folge der Grunderkrankung des Klägers anzusehen.
Das Oberlandesgericht hat festgestellt, dass die Beklagten verpflichtet sind, den gesamten bereits entstandenen und den zukünftigen Schaden zu ersetzen. Über die Höhe des Schmerzensgeldes hat es nicht entschieden, sondern die Sache zurückverwiesen mit dem Hinweis, dass auch ein höheres Schmerzensgeld als 200.000 Euro nicht ausgeschlossen sei.
Grober Fehler des Kinderkardiologen
Der Fehler des Kinderkardiologen ist als grober Fehler anzusehen. Grob ist ein Fehler, wenn der Behandelnde einen eindeutigen Verstoß gegen bewährte Behandlungsgrundsätze begangen hat, und dieser Verstoß aus objektiver medizinischer Sicht nicht mehr als verständlich erscheint, weil er einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf.
Die Verabreichung einer achtfachen Digitalis-Dosis gegenüber der medizinisch indizierten ist ein eindeutiger Verstoß gegen bewährte Behandlungsregeln, der auch objektiv (!) unverständlich ist und der einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf. Unbeachtlich ist deshalb, dass es sich bei seinem Fehlverhalten um ein typisches "Augenblicksversagen" (unkritisches Unterschreiben eines von der Hilfskraft vorbereiteten Rezeptes) gehandelt haben kann. Wer prinzipiell lebensgefährliche Medikamente verschreibt, muss sich der Bedeutung dieses Tuns bewusst sein und seine volle Aufmerksamkeit hierauf konzentrieren. Weder der für den niedergelassenen Arzt typische Praxis-Stress noch Ablenkung oder Routine können ein solches Versehen entschuldigen: in solchen Momenten darf der Arzt nicht versagen.
Grober Fehler des Apothekers und seiner Angestellten
Den Apotheker und seine Angestellten, für deren Verschulden er nach §§ 278, 831 BGB einzustehen hat, traf die Pflicht, die Abgabe des Medikamentes Lanitop an die Eltern des Klägers zu unterlassen bzw. zu verhindern, jedenfalls aber die Eltern des Klägers auf die Fehlmedikation durch den Beklagten zu 1) hinzuweisen, und vor dem Gebrauch des Medikamentes zu warnen, ggf. den Verkauf bis zur Klärung der Angelegenheit zu verweigern. Schon einen normalen Verkäufer treffen vertraglich wie deliktisch allgemeine Warn- und Hinweispflichten im Hinblick auf die mit dem Kaufgegenstand einhergehenden Gefahren für Leib, Leben oder Gesundheit des Käufers. Einen Apotheker treffen darüber hinaus auch berufsrechtliche Beratungspflichten hinsichtlich der von ihm abgegebenen Medikamente, die über die allgemeinen vertraglichen Warn- und Hinweispflichten eines Verkäufers hinausgehen. Jedem Apotheker und jedem Angestellten einer Apotheke muss bekannt sein, ob ein gefährliches Herzmedikament in einer bestimmten Darreichungsform für Erwachsene oder für Kleinkinder und Säuglinge bestimmt ist. Ein blindes Vertrauen auf die Verordnung des Arztes darf es nicht geben, denn auch ein Arzt und sein Personal können irren bzw. ihnen kann ein folgenschweres Versehen unterlaufen. Der Apotheker muss sich vielmehr eigene Gedanken über die Richtigkeit und Sinnhaftigkeit der Verordnung machen. Im Zweifel muss der Apotheker beim Arzt nachfragen, und die Angestellte des Apothekers muss entweder beim Arzt oder ihrem Chef bzw. einem anderen Apotheker nachfragen. Den Apotheker treffen insoweit entsprechende Organisations-, Instruktions- und Überwachungspflichten hinsichtlich seines Personals.
Durch die unkritische Befolgung der ärztlichen Verordnung und die Abgabe des Medikamentes an die Mutter des Klägers hat die Angestellte des Apothekers die sie treffenden Pflichten verletzt. Sie hätte das Medikament, das so nur für Erwachsene oder Heranwachsende bestimmt war, nicht zur Behandlung eines Säuglings abgeben dürfen. Da der Name und das Geburtsdatum des Patienten, für den das Mittel bestimmt war, klar und eindeutig aus dem Rezept hervorging, wusste sie, dass es um einen Säugling ging; sie wusste es ferner aus den unstreitigen Gesprächen mit der Mutter. Das Medikament passte nicht, es war eines für Erwachsene. Die Packungsgröße passte nicht. Aus einer Packung mit 100 Tabletten entnahm sie vielmehr einzelne Blister, um die verordnete kleine Menge erzielen zu können, was dazu führt, dass die Mutter des Klägers nicht einmal mehr einen Beipackzettel erhielt. Die Darreichungsform passte nicht, die Angestellte und die Mutter des Klägers stellten vielmehr Überlegungen dahin an, wie man Tabletten einem Säugling einflößen könne, was letztlich zur Notwendigkeit des Mörserns führte. Sie musste sich denken, dass hier etwas nicht stimmen konnte. Sie hätte die Abgabe unter allen Umständen zunächst verweigern müssen und sich entweder beim Kinderkardiologen, dessen Praxisräume sich im gleichen Haus befanden, oder beim Apotheker erkundigen müssen. Dieses Fehlverhalten seiner Angestellten muss der Apotheker sich hinsichtlich der vertraglichen Pflichten nach § 278 BGB zurechnen lassen. Hinsichtlich einer Haftung aus unerlaubter Handlung nach § 831 BGB hat er nichts zur Auswahl, Unterrichtung und Überwachung der Angestellten vorgetragen, was ihn entlasten könnte, so dass er auch insoweit für das Fehlverhalten seiner Angestellten haftet.
Ein eigenes Verschulden des Apothekers besteht darin, dass er es versäumt hat, seine Angestellte im Hinblick auf den Fall des Klägers richtig zu instruieren. Der Kläger und seine Situation waren ihm, wie er selbst in der mündlichen Verhandlung eingeräumt hat, bekannt. Er hatte insbesondere die Medikamentenliste bzw. den Medikamentenplan der Kinderklinik vorliegen und er hatte einen anderen Mitarbeiter - ebenfalls Apotheker - mit der säuglingsgerechten Erstellung der Medikamente beauftragt. In dieser Situation oblag es ihm, etwaige übrige Mitarbeiter entsprechend zu informieren.
Haftung des Arztes und des Apothekers wegen groben Fehlers
Liegt ein grober Behandlungsfehler vor und ist dieser grundsätzlich geeignet, eine Verletzung des Lebens, des Körpers oder der Gesundheit der tatsächlich eingetretenen Art herbeizuführen, wird vermutet, dass der Behandlungsfehler für diese Verletzung ursächlich war (§ 630h Abs. 5 BGB). Ärzte sind nach dieser Vorschrift zum Schadensersatz verpflichtet, wenn ihnen ein grober Fehler unterlaufen ist, und der Patient einen Gesundheitsschaden erlitten hat, der möglicherweise auf den Behandlungsfehler zurückzuführen ist. Nur durch den Nachweis, dass der Schaden nicht auf dem Behandlungsfehler beruht, können sie die Haftung ausschließen.
Das Oberlandesgericht wendet die gesetzliche Regelung über die Umkehr der Beweislast entsprechend auf Apotheker an.
Aus diesem Grund hat es, gestützt auf das Gutachten eines Sachverständigen, festgestellt, dass die gravierenden Hirnschäden eine mögliche und nicht gänzlich unwahrscheinliche Folge des durch grobe Behandlungsfehler des Kinderkardiologen und des Apothekers für 50 Minuten eingetretenen Herzstillstands und der dadurch verursachten Hirnschädigung des Klägers sind.
Höhe des Schmerzensgeldes
Der Kläger hat ferner Anspruch auf Schmerzensgeld (§ 253 BGB).
Die Schädigung des Klägers geht weit über das Maß eines durchschnittlich veranlagten Kindes mit Down-Syndrom hinaus, erst recht also weit über das Maß dessen, was bei einem für den Kläger günstigen Verlauf zu erwarten wäre. Sollte sich dies im Hinblick auf seine Vorschäden als nicht weiter aufklärbar darstellen, wäre die vom Kläger als Mindestbetrag begehrte, vom Landgericht zuerkannte und vom Kläger im Berufungsverfahren nicht weiter angegriffene Schmerzensgeldsumme nicht zu beanstanden, würde vielmehr als auf jeden Fall angemessen angesehen. Da aber zum Umfang des Anteils der Vorschäden und zu den Perspektiven des Klägers keine hinreichende Beurteilungsgrundlage gegeben ist, sieht das Gericht von der Festlegung eines Mindestbetrages ab.
Anmerkung: Die Grundsätze des Urteils gelten entsprechend für psychologische Psychotherapeuten, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten und Angehörige anderer Heilberufe wie Heilpraktiker, Hebammen, Physiotherapeuten, Masseure, medizinische Bademeister, Ergotherapeuten, Logopäden, Physiotherapeuten und Mitarbeiter in der Pflege (OLG Oldenburg, VersR 1997, 749).