Überlange Gerichtsverfahren: Anspruch auf Entschädigung
Bundessozialgericht, Urteil vom 12.02.2015 - B 10 ÜG 11/13 R
Die Klägerin bezog Leistungen nach dem SGB II. Wegen eines Meldeversäumnisses und gleichzeitig wiederholter Pflichtverletzung wurde die Regelleistung durch Widerspruchsbescheid vom 01.12.2009 unter Abänderung des Bewilligungsbescheids für die Monate November 2009 bis Januar 2010 um 20 vom Hundert, insgesamt 216 Euro, abgesenkt und der Kürzungsbetrag einbehalten.
Mit ihrer am 08.12.2009 beim SG Speyer erhobenen Klage wandte sich die Klägerin gegen die Aufhebung der Absenkung. Nach Aktenbeiziehung und Schriftsatzwechsel forderte das Ausgangsgericht die Klägerin seit März 2010 wiederholt zur Vorlage der Einladungen zu den Meldeterminen auf. Nachdem die Klägerin im August 2010 mitgeteilt hatte, die Einladungen seien nicht mehr auffindbar, bewilligte das Ausgangsgericht im September 2010 Prozesskostenhilfe und verfügte die Wiedervorlage zum 07.10.2010. Mehr als ein Jahr später, am 16.12.2011 erhob die Klägerin Verzögerungsrüge. Im Mai 2012 erfolgte die Ladung zur mündlichen Verhandlung am 25.06.2012. In diesem Termin endete das Verfahren mit der Annahme eines vom Beklagten unterbreiteten Anerkenntnisses durch die Klägerin.
Am 13.12.2012 hat die Klägerin Klage auf Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer in Höhe von 2.100 Euro erhoben. Das Landessozialgericht hat das beklagte Land verurteilt, an die Klägerin eine Entschädigung in Höhe von 216 Euro zu zahlen und die weitergehende Klage abgewiesen.
Das Bundessozialgericht hat das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 25. September 2013 aufgehoben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen:
- Wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet, wird angemessen entschädigt. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter.
- Die Bedeutung eines Verfahrens ergibt sich aus der allgemeinen Tragweite der Entscheidung für die materiellen und ideellen Interessen der Beteiligten. Es kommt nicht auf den objektiven Umfang der eingeklagten Forderung an, sondern um die Bedeutung für den Kläger im Einzelfall. Geht es um Grundsicherungsleistungen, die zur Deckung des Lebensunterhalts im Existenzminimumsbereich fehlen, so spricht dieser Umstand gegen eine untergeordnete Bedeutung.
- Ein Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist, wird vermutet, wenn ein Gerichtsverfahren unangemessen lange gedauert hat. Das Bundessozialgericht geht davon aus, dass eine Verfahrensdauer zwölf Monate je Instanz in der Regel als angemessen anzusehen ist, eine längere nur dann, wenn die Überschreitung trotz vertretbarer aktiver Verfahrensgestaltung des Gerichts eingetreten ist. Verzögerungen infolge fehlender Mitwirkung des Klägers werden nicht berücksichtigt.
- Die Entschädigung beträgt pauschal 1.200 Euro für jedes Jahr der Verzögerung. Dieser Betrag ist in aller Regel auch dann zu zahlen, wenn er den Streitwert (hier: 216 Euro) um ein Vielfaches übersteigt. Nur ausnahmsweise, in atypischen Sonderfällen, kann das Gericht einen höheren oder niedrigeren Betrag festsetzen. Der Anspruch auf Entschädigung besteht allerdings nicht, soweit nach den Umständen des Einzelfalles Wiedergutmachung auf andere Weise ausreichend ist.
- Entschädigung erhält ein Verfahrensbeteiligter nur, wenn er bei dem mit der Sache befassten Gericht die Dauer des Verfahrens gerügt hat (Verzögerungsrüge). Die Verzögerungsrüge kann erst erhoben werden, wenn Anlass zur Besorgnis besteht, dass das Verfahren nicht in einer angemessenen Zeit abgeschlossen wird (§ 198 Abs. 3 Gerichtsverfassungsgesetz).
- Eine Klage zur Durchsetzung eines Entschädigungsanspruchs kann frühestens sechs Monate nach Erhebung der Verzögerungsrüge erhoben werden. Die Klage muss spätestens sechs Monate nach Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung, die das Verfahren beendet, oder einer anderen Erledigung des Verfahrens erhoben werden (§ 198 Abs. 5 Gerichtsverfassungsgesetz).
Anmerkung: Das Urteil befasst sich mit den Rechtsschutzmöglichkeiten gegen überlange Gerichtsverfahren. Wegen der komplizierten Rechtslage sollte stets juristischer Rat eingeholt werden.
- Verzögerungsrügen müssen möglichst schriftlich und deutlich erhoben werden. Angesichts der vom Bundessozialgericht den Sozial- und Landessozialgerichten für den Regelfall eingeräumten Frist von 12 Monaten kann davon ausgegangen werden, dass Verzögerungsrügen erhoben werden können, wenn sechs Monate nach Klageerhebung verstrichen sind und nicht abzusehen ist, dass in den nächsten sechs Monaten eine Entscheidung ergeht.
- Klage auf Entschädigung kann frühestens sechs Monate nach Zugang der Verzögerungsrüge erhoben werden.
Der Anspruch auf Entschädigung besteht auch dann, wenn der Kläger mit seiner Klage auf Bewilligung einer Sozialleistung keinen Erfolg hat. So wurde einem Kläger, dessen Klage auf Bewilligung einer Rente abgewiesen wurde, auf seine weitere Klage eine Entschädigung in Höhe von 6.700 Euro wegen überlanger Dauer des Verfahrens zuerkannt (BSG, Urteil vom 12.02.2015 - B 10 ÜG 11/13 R).