Schutzpflichten in Krankenhäusern, Schulen, Seniorenheimen, Kindergärten: Begrenzung der Wassertemperatur
Bundesgerichtshof, Urteil vom 22. August 2019 - III ZR 113/18
Die 1969 geborene Klägerin lebte seit März 2012 in einem Wohnheim für Menschen mit einer geistigen Behinderung. Sie ist geistig behindert (Prader-Willi-Syndrom) und hat eine deutliche Intelligenzminderung.
Mit Erlaubnis einer Betreuerin ließ sie im April 2013 heißes Wasser in eine Sitzbadewanne einlaufen, wobei die Temperaturregelung über einen Einhebelmischer ohne Begrenzung der Heißwassertemperatur erfolgte. Das ausströmende Wasser war so heiß, dass die Klägerin schwerste Verbrühungen an beiden Füßen und Unterschenkeln erlitt.
Bei der Heilbehandlung im Krankenhaus kam es bei mehreren Hauttransplantationen zu erheblichen Komplikationen. Die Klägerin wurde mit einem multiresistenten Keim infiziert. Sie ist inzwischen nicht mehr gehfähig und auf einen Rollstuhl angewiesen. Außerdem verschlechterte sich ihr psychischer Zustand, was sich unter anderem in häufigen und anhaltenden Schreianfällen äußert.
Die Klägerin hat Klage erhoben. Sie beantragt die Zahlung eines Schmerzensgeldes von mindestens 50.000 Euro und einer monatlichen Rente von 300 Euro sowie Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten für weitere materielle und immaterielle Schäden.
Die Klage blieb beim Landgericht und beim Oberlandesgericht erfolglos. Der Bundesgerichtshof stellte fest:
- Ein Heimbewohner, der dem Heimträger zum Schutz seiner körperlichen Unversehrtheit anvertraut ist, kann erwarten, dass der Heimträger ihn vor einer - jedenfalls in einer DIN-Norm beschriebenen - Gefahrenlage schützt, wenn er selbst auf Grund körperlicher oder geistiger Einschränkungen nicht in der Lage ist, die Gefahr eigenverantwortlich zu erkennen und angemessen auf sie zu reagieren.
- Um die daraus folgende Obhutspflicht zu erfüllen, muss der Heimträger, soweit dies mit einem vernünftigen finanziellen und personellen Aufwand möglich und für die Heimbewohner sowie das Pflege- und Betreuungspersonal zumutbar ist, nach seinem Ermessen entweder die Empfehlungen der DIN-Norm umsetzen oder aber die erforderliche Sicherheit gegenüber der dieser Norm zugrunde liegenden Gefahr auf andere Weise gewährleisten, um Schäden der Heimbewohner zu vermeiden.
- Der Heimbetreiber hat die Pflicht, unter Wahrung der Würde und des Selbstbestimmungsrechts der ihm anvertrauten Bewohner diese vor Gefahren zu schützen, die sie nicht beherrschen. Welche konkreten Inhalt die Verpflichtung hat, einerseits die Menschenwürde und das Freiheitsrecht eines körperlich oder geistig beeinträchtigten Heimbewohners zu achten und andererseits sein Leben und seine körperliche Unversehrtheit zu schützen, kann nicht generell, sondern nur aufgrund einer Abwägung sämtlicher Umstände des jeweiligen Einzelfalls entschieden werden.
- In diese Einzelfallabwägung können auch technische Regelungen wie insbesondere DIN-Normen einzubeziehen sein, die in Hinblick auf eine bestimmte Gefahrenlage bestehen. Dementsprechend war auch der Inhalt der seit Juni 2005 geltenden "Technischen Regeln für Trinkwasser-Installationen - Teil 2: Planung" (DIN EN 806-2) zu beachten.
DIN EN 806-2: Technische Regeln für Trinkwasser-Installationen - Teil 2: Planung
"9.3.2 Vermeidung von Verbrühungen Anlagen für erwärmtes Trinkwasser sind so zu gestalten, dass das Risiko von Verbrühungen gering ist.
An Entnahmestellen mit besonderer Beachtung der Auslauftemperaturen wie in Krankenhäusern, Schulen, Seniorenheimen usw. sollten zur Verminderung des Risikos von Verbrühungen thermostatische Mischventile oder -batterien mit Begrenzung der oberen Temperatur eingesetzt werden. Empfohlen wird eine höchste Temperatur von 43 °C.
Bei Duschanlagen usw. in Kindergärten und in speziellen Bereichen von Pflegeheimen sollte sichergestellt werden, dass die Temperatur 38 °C nicht übersteigen kann."
- Danach ist der Einrichtungsträger verpflichtet
a) entweder eine Begrenzung der Temperatur des austretenden Wassers entsprechend den Empfehlungen der DIN EN 806-2 technisch sicherzustellen. Dies wäre ohne Umbau oder Erneuerung der gesamten Heizungsanlage allein durch Austausch der Mischarmaturen in der Dusche möglich gewesen oder
b) die Bewohnerin vor Schaden zu bewahren, indem die Temperatur des Badewassers vor jedem Einlaufen durch eine Betreuungsperson der Einrichtung überprüft worden wäre.
Anmerkung: Der Bundesgerichtshof hat die Sache zurückverwiesen, damit das Oberlandesgericht feststellt, ob der Vortrag der Klägerin über die Schadensfolgen zutrifft.