Rechtsprechung zum Opferentschädigungsgesetz
Übersicht
Gewalttat eines Kindes
Sexueller Missbrauch im Jahre 1976
Freiheitsberaubung
Schönheitsoperation nach bewusst falscher Aufklärung
Posttraumatischer Belastungsstörung von Sekundäropfern
Gewalttat eines Kindes
Eine rechtswidrige Gewalttat ist nicht gegeben bei einer unter Kindern im Vorschulalter üblichen "Rangelei" oder "Schubserei", bei der ein Kind eine Verletzung erleidet.
Jedoch startet ein 4 1/2 jähriges Kind einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff, wenn es sich hinter den dem Wasser zugewandten fünfjährigen Spielkameraden stellt und ihn mit beiden Händen und größerem Krafteinsatz ins Wasser stößt mit der Folge, dass der Spielkamerad ertrinkt; denn ein Kind im Alter von 4 1/2 Jahren kann durchaus in der Lage sein, bei einfachen Handlungsabläufen die unmittelbaren Folgen ungefähr vorherzusehen. Der Vorsatz muss sich nur auf den tätlichen Angriff, nicht auf den Körperschaden richten.
Auch ein "impulsiv" handelnder Täter kann einen natürlichen Vorsatz haben. Die mangelnde Fähigkeit zur oder der Verlust der Impulskontrolle macht den Täter zwar möglicherweise schuldunfähig, schließt aber ein Handeln mit natürlichem Vorsatz nicht aus.
Nicht erforderlich sind eine "feindselige" Gesinnung des Täters und die Fähigkeit, seine Handlung moralisch zu bewerten. Die Unfähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen, betrifft die Schuldfähigkeit des Täters, auf die es im Rahmen des OEG nicht ankommt.
Bundessozialgericht, Urteil vom 8.11.2007 - B 9/9a VG 3/06
Sexueller Missbrauch im Jahre 1976
Erleidet ein Opfer gesundheitliche Schäden aufgrund eines sexuellen Missbrauchs Anfang der 60er Jahre, so ist ihm eine Entschädigung nach dem Opferentschädigungsgesetz zu gewähren.
Einer Entschädigung steht nicht entgegen, dass die Tat vor dem Inkrafttreten des Opferentschädigungsgesetzes im Jahre 1976 begangen worden sei. Denn auch die vor diesem Zeitpunkt nach dem 23.05.1949 geschädigten Personen sind anspruchsberechtigt, soweit sie infolge des tätlichen Angriffs schwerbeschädigt sind und Bedürftigkeit vorliegt (§ 10a Abs. 1 OEG).
Landessozialgericht Hessen, Urteil vom 28.05.2008 - L 4 VG 6/07
Freiheitsberaubung
Eine Gewalttat liegt vor, wenn eine Person durch Mittel körperlicher Gewalt ihrer Freiheit beraubt und/oder dieser Zustand durch Tätlichkeiten aufrechterhalten wird. Es reicht aus, wenn der Täter sich der Person an der Zimmertür in den Weg gestellt und sie ins Zimmer zurückdrängt bzw. zurückstößt. Diese nicht gravierenden Tätlichkeiten zeigen, dass der Täter sein Verbot, die Wohnung zu verlassen als Dauerdelikt einer Freiheitsberaubung mit körperlicher Gewalt weiterhin durchsetzen wollte und würde.
Damit drohte konkret die Gefahr weiterer Tätlichkeiten und von Körperverletzungen für den Fall, dass die Klägerin entschieden und nachhaltig versucht haben sollte, die Wohnung durch die Tür zu verlassen, um so ihr Recht auf Bewegungsfreiheit durchzusetzen.
Der durch den tätlichen Angriff auf die Klägerin in Gang gesetzte schädigende Vorgang endete nicht mit Vollendung der Freiheitsberaubung, sondern schließt die Flucht der Klägerin und als schädigendes Ereignis deren Absturz aus dem dritten Stockwerk ein.
Es bleibt offen, ob auch Fälle von Freiheitsberaubung ohne aggressives Einwirken auf das Opfer - etwa durch Einsperren in einen umschlossenen Raum oder durch bloßes Blockieren von Ausgängen oder durch List - als Gewalttat anzusehen sind.
Bundessozialgericht, Urteil vom 30.11.2006 - B 9a VG 4/05 R und vom 08.10.2008 - B 9 VG 2/07 R
Schönheitsoperation nach bewusst falscher Aufklärung
Eine Schönheitsoperation stellt eine vorsätzliche, rechtswidrige gefährliche Körperverletzung und damit eine Gewalttat dar, wenn die Zustimmung durch bewusst falsche Aufklärung erschlichen wurde.
Die Klägerin hatte den Arzt im Vorfeld auf ihre vorhandenen Vorerkrankungen aufmerksam gemacht. Der Arzt verschwieg der Klägerin aber, dass wegen dieser Vorerkrankungen die Operationen ein erhebliches Gesundheitsrisiko darstellten. Er tat dies aus finanziellen Motiven, weil er befürchtete, die Patientin werde sich sonst nicht von ihm operieren lassen.
In einem solchen Fall kommt ein Anspruch des Patienten auf Entschädigung nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG) in Betracht.
Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 21.05.2008 - L 10 VG 6/07
Posttraumatischer Belastungsstörung von Sekundäropfern
Opferentschädigung steht nicht nur dem unmittelbar von der Gewalttat Betroffenen (Primäropfer), sondern auch dem Menschen zu, der aufgrund der Gewalttat einen psychischen Schaden erleidet (Sekundäropfer).
Der Anspruch des Sekundäropfers auf Opferentschädigung setzt einen engen Zusammenhang zwischen der das Primäropfer betreffenden Gewalttat und den psychischen Auswirkungen beim Sekundäropfer voraus. Dieser ist gegeben, wenn das Sekundäropfer durch Wahrnehmung der Gewalttat oder eine sonstige Kenntnisnahme davon geschädigt worden ist oder wenn eine besondere personale Nähe zu dem Primäropfer besteht (z. B. bei Gewalttaten gegen nahe Angehörige).
Eine zu einem Schockschaden führende Schädigung im Sinne des Opferentschädigungsgesetzes liegt auch dann vor, wenn das belastende Ereignis eine - u. U. zunächst weitgehend symptomlose - seelische Reaktion des Sekundäropfers von einigem Gewicht bewirkt.
Der Anspruch auf Opferentschädigung besteht schon, wenn Tatsachen vorliegen, die eine bestärkte Wahrscheinlichkeit für einen Ursachenzusammenhang zwischen einem belastenden Ereignis und dem Auftreten einer psychischen Erkrankung begründen. Der Anspruch ist in diesem Fall nur ausgeschlossen, wenn die Versorgungsverwaltung nachweist, dass die Erkrankung auf einer anderen Ursache beruht.
Hinweis: Das Urteil des Bundessozialgerichtes erleichtert die Durchsetzung der Ansprüche von Gewaltopfern erheblich:
- Es erkennt an, dass Hinterbliebene außer den Hinterbliebenenrenten zusätzlich Renten wegen einer durch den Schock erlittenen Erwerbsminderung beanspruchen können.
- Es stellt fest, dass ein Schockschaden auch mit erheblichem zeitlichen Abstand nach der Gewalttat eintreten kann.
- Es verlangt für den Anspruch auf Entschädigung nicht den Nachweis, dass die Gewalttat den Schaden ausgelöst hat, und dass alle anderen Ursachen ausscheiden. Ausreichend ist, dass eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für einen ursächlichen Zusammenhang besteht.
Bundessozialgericht, Urteil vom 12.6.2003, B 9 VG 1/02 R