Rechtsprechung zum Flüchtlingsrecht: Existenzminimum, Rücküberstellung, Abschiebung
Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums
Auch ein asylrechtlich unzulässiges Verhalten rechtfertigt nicht die Einschränkung der Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz.
Landessozialgericht NRW, Beschluss vom 27.03.2020 - L 20 AY 20/20 B ER
Der Beschluss betrifft Flüchtlinge, die in die Bundesrepublik eingereist waren, nachdem ihnen in Griechenland, Italien, Spanien oder einem anderen Land der EU bereits internationaler Schutz gewährt worden ist.
Solange der Aufenthalt in der BRD von der Ausländerbehörde - beispielsweise durch Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsandrohung - hingenommen wird, hat ein Flüchtling Anspruch auf ungekürzte Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz.
Keine Rücküberstellung von Geflüchteten nach Italien wegen Gefahr extremer materieller Not
Asylanträge eines in einem anderen Land der EU anerkannten Schutzberechtigten bzw. eines Asylsuchenden, der bereits in einem anderen Land der EU einen Asylantrag gestellt hatte, dürfen in der Bundesrepublik nicht als unzulässig abgelehnt werden, wenn die ernsthafte Gefahr besteht, dass sie im Fall ihrer Rücküberstellung ihre elementarsten Bedürfnisse für einen längeren Zeitraum nicht befriedigen können.
Oberverwaltungsgericht NRW, Urteil vom 20.07.2021 - 11 A 1674/20 A
Die Asylanträge eines in Italien anerkannten Schutzberechtigten aus Somalia und eines Asylsuchenden aus Mali, der zuvor in Italien einen Asylantrag gestellt hatte, wurden vom Gericht zugelassen, weil im Falle ihrer Rücküberstellung nach Italien die ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung drohe. Es bestehe die Gefahr, dass die beiden Kläger in Italien in extreme materielle Not gelangen, weil sie dort für einen längeren Zeitraum weder einen Anspruch auf eine Unterkunft/Wohnung noch Aussicht auf eine Arbeit haben, die ihnen ermöglicht, ihren Unterhalt zu bestreiten.
Keine Abschiebung an einen verfolgungssicheren Ort bei fehlender Existenzsicherung
Die Abschiebung eines abgelehnten erwerbsfähigen Asylbewerbers an einen verfolgungssicheren Ort ist ausgeschlossen, wenn er voraussichtlich dort durch eigene, notfalls auch wenig attraktive und seiner Vorbildung nicht entsprechende Arbeit oder durch Zuwendungen von dritter Seite das zu seinem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige nicht erlangen kann.
Oberverwaltungsgericht NRW, Beschluss vom 30.06.2021 - 1 A 1623/20 A
Zu den zumutbaren Arbeiten gehören auch Tätigkeiten, für die es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen und die nur zeitweise ausgeübt werden können, auch soweit diese Arbeiten als Tätigkeiten im Bereich einer "Schatten- oder Nischenwirtschaft" bezeichnet werden.
Der Verweis auf eine kriminelle Arbeit hingegen wäre nicht zumutbar, also etwa eine Arbeit für eine kriminelle Organisation, die in der fortgesetzten Begehung von oder der Teilnahme an Verbrechen besteht. Deshalb kann eine Tätigkeit für eine terroristische Vereinigung nicht als potentielle Erwerbsmöglichkeit zur Sicherung des Existenzminimums angesehen werden.
Keine Rückkehrentscheidungen gegen unbegleitete minderjährige Geflüchtete wegen ungewisser Existenzsicherung
Aus dem Kindeswohlprinzip ergibt sich, dass die Abschiebung eines Minderjährigen unzulässig ist, wenn unsicher ist, ob er von einem Familienmitglied oder einer geeigneten Einrichtung aufgenommen wird.
Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 14.01.2021 - C-441/19
Im Juni 2017 stellte ein unbegleiteter, aus Guinea stammender Minderjähriger in den Niederlanden einen Antrag auf eine befristete Aufenthaltserlaubnis als Asylbewerber. Ein Jahr später wurde der Antrag des damals 16-Jährigen abgelehnt. Hiergegen hat der geflüchtete Minderjährige Klage eingelegt und vorgetragen, dass er den Aufenthaltsort seiner Eltern nicht kenne, sie nicht wiedererkennen würde und auch keine anderen Familienangehörigen habe.
Das Gericht hat die Frage, ob hier zwischen über und unter 15-Jährigen unterschieden werden dürfe, dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vorgelegt.
Der EuGH hat entschieden, dass Mitgliedstaaten bei Erlass von Rückkehrentscheidungen, die unbegleitete minderjährige Geflüchtete betreffen, in allen Stadien des Verfahrens zwingend das Kindeswohl zu berücksichtigen haben:
- Stets ist eine umfassende und eingehende Beurteilung der Situation des betreffenden Minderjährigen erforderlich. Deshalb muss sich die zuständige Behörde bereits vor Erlass einer Rückkehrentscheidung des Minderjährigen vergewissern, dass dieser einem Mitglied seiner Familie, einem offiziellen Vormund oder einer geeigneten Aufnahmeeinrichtung übergeben wird.
- Das Alter des Minderjährigen stellt zwar im Rahmen der Prüfung einen von mehreren Gesichtspunkten dar, die Durchführung einer Überprüfung einer geeigneten Aufnahmemöglichkeit als solche hat jedoch stets unabhängig vom Alter zu erfolgen.