Räumungszwangsvollstreckung: Einstellung auf Dauer wegen Suizidgefahr nur in absoluten Ausnahmefällen
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 06.06.2016 - 2 BvR 548/16
Gegen die 70-jährige Eigentümerin und Bewohnerin eines Wohnhauses war im Oktober 2012 die Räumungszwangsvollstreckung wegen Gesamtgrundschulden in Höhe von 450.000 Euro angeordnet worden. Sie hatte im Jahre 2013 und im Jahre 2015 nach § 765a ZPO Vollstreckungsschutz mit der Begründung beantragt, sie sei suizidgefährdet, und legte Verfassungsbeschwerde gegen Beschlüsse des Amtsgerichts und des Landgerichts Aachen ein, durch die das Zwangsversteigerungsverfahren nur einstweilen bis zum 31. Juli 2016 ohne Auflagen eingestellt worden war.
Das Bundesverfassungsgericht stellte fest:
- In besonders gelagerten Einzelfällen hat das Vollstreckungsgericht die Zwangsvollstreckung für einen längeren Zeitraum und - in absoluten Ausnahmefällen - auf unbestimmte Zeit einzustellen.
- Ergibt die erforderliche Abwägung im Einzelfall, dass die unmittelbar der Erhaltung von Leben und Gesundheit dienenden Interessen des Schuldners im konkreten Fall ersichtlich schwerer wiegen als die Belange des Gläubigers, so ist die Fortsetzung der Zwangsvollstreckung unzulässig. Sie verletzt den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und das Grundrecht des Schuldners auf Leben und Gesundheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG).
Aus der Begründung des Beschlusses: Die Beschwerdeführerin leidet an einer schweren Depression mit psychotischen Symptomen und einer posttraumatischen Belastungsstörung, verursacht durch in der Kindheit und Jugend erlittene schwere Misshandlungen, einschließlich sexuellen Missbrauchs im Elternhaus und in einer Jugendeinrichtung.
Sie ist körperlich schwer behindert, es besteht Pflegestufe II. Seit Anfang 2015 gehe es ihr kontinuierlich schlechter. Sie habe immer wieder Suizidgedanken mit nun zunehmender Intensität. Auslöser für die massive Verschlechterung ihres Zustandes sei die ständige Androhung der Zwangsversteigerung ihres Hauses, welches für sie nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich ein geschützter Rückzugsort, ein Ort der Geborgenheit, gewesen sei. Sie habe ständig Todeswünsche mit zunehmender gedanklicher Ausgestaltung der Tat.
In den ärztlichen Attesten heißt es weiter, die Beschwerdeführerin arbeite im Rahmen ihrer Möglichkeiten in allen Therapien mit. Vom psychiatrischen Fachgebiet seien die therapeutischen Maßnahmen vollumfänglich ausgeschöpft. Eine stationäre Unterbringung zur Krisenintervention in einem psychiatrischen Krankenhaus sei nicht indiziert, da diese Maßnahme zu einer Retraumatisierung führen und ihren Zustand und die Ursachen für aktuelle Verfassung nicht verbessern würde. Belastungen durch gutachterliche Explorationen seien der Beschwerdeführerin in keiner Weise mehr zuzumuten, da sie auch durch das Aussprechen des vergangenen Unrechts ständig retraumatisiert und die Selbsttötungsgefahr dadurch weiter erhöht werde. Vom psychiatrischen Fachgebiet her sei es für die Beschwerdeführerin das Beste, wenn das Zwangsversteigerungsverfahren ihres Wohnhauses endgültig eingestellt würde. Eine andere Möglichkeit der Gefahrenabwehr sei nicht zu erkennen. Solange der Verlust des Wohnanwesens drohe, sei sie weiter als schwer suizidgefährdet einzustehen. Ihre Drohungen seien ernst zu nehmen, da die Beschwerdeführerin in der Vergangenheit bereits harte Suizidversuche mit bleibenden körperlichen Schäden unternommen habe. Ein Suizidversuch habe zu dem Verlust eines Auges und einem Schädelhirntrauma mit wochenlanger Bewusstlosigkeit geführt.
…Auf dieser Grundlage ist nicht nachvollziehbar, wie Leben und Gesundheit der Beschwerdeführerin durch eine bloße Verfahrenseinstellung für die Dauer von achteinhalb Monaten seit der landgerichtlichen Entscheidung geschützt werden können. Nach den fachgerichtlichen Entscheidungen sollte der Beschwerdeführerin dadurch die Möglichkeit gegeben werden, die begonnenen Therapien unbelastet von der Notwendigkeit zur regelmäßigen Dokumentation eventueller Behandlungsfortschritte fortzusetzen und auf diese Weise eine Stabilisierung ihres Gesundheitszustands zu erreichen. Die Atteste schließen eine Besserung jedoch aus, solange die Zwangsversteigerung nicht endgültig abgewendet ist.
Anmerkung: Das Bundesverfassungsgericht verwies die Sache an das Landgericht zurück und stellte das Zwangsversteigerungsverfahren bis zum Erlass der erneuten Entscheidung ein: Das Landgericht habe u. a. noch zu prüfen, ob es langfristige Lösungsmöglichkeiten für den Konflikt zwischen der Gesundheitsgefahr für die Beschwerdeführerin und den Vermögensinteressen der Gläubigerin gebe. Dabei sei zu beachten, dass die Ansprüche der Gläubigerin durch die Grundschulden vorrangig dinglich gesichert sind, so dass auch bei einer späteren Verwertung der Grundstücke noch mit einer Befriedigung gerechnet werden kann. Schließlich sei noch zu prüfen, ob und welche Möglichkeiten es für die Beschwerdeführerin gibt, ein solches stabiles Wohnumfeld anderweitig zu schaffen und welcher Zeitraum hierfür unter therapeutischer Begleitung gegebenenfalls erforderlich wäre.
Der Bundesgerichtshof hat darauf hingewiesen, dass eine zwangsweise Unterbringung nach dem PsychKG sowie eine betreuungsrechtliche Unterbringung zur Ermöglichung der Zwangsvollstreckung zulässig sein kann, wenn innerhalb eines überschaubaren Zeitraums die Chance zu einer Stabilisierung des Suizidgefährdeten durch therapeutischen Maßnahmen besteht.1
1 Bundesgerichtshof, Urteil vom 01.06.2017 - 1 ZB 89/16, Rn 24.