Postmortales Persönlichkeitsrecht: Fortbestehen der beruflichen Schweigepflicht nach dem Tod des Anvertrauenden
Oberlandesgericht Koblenz, Beschluss vom 23.10.2015 - 12 W 538/15, NJW-Spezial 2016, 72
Der Kläger - Sohn der Verstorbenen - macht in dem Rechtsstreit einen Pflichtteilsanspruch geltend. Die Beklagte - Tochter der Verstorbenen - verlangt vorweg einen finanziellen Ausgleich dafür, dass sie - so ihre Behauptung - ihre Mutter gepflegt hat.
Das Landgericht hat in seinem Beschluss die Vernehmung des Arztes angeordnet, der die Mutter der Parteien vor ihrem Tod behandelt hat. Er soll zur Behauptung der Beklagten aussagen, in welcher Art und Weise sowie in welchem Umfang sie pflegebedürftig gewesen sei und unter welchen Erkrankungen sie gelitten habe. Der Arzt hat erklärt, er habe mit der Mutter der Parteien nie über persönliche, ihre Familie betreffende Angelegenheiten gesprochen und eine Aussage abgelehnt.
Das Oberlandesgericht bestätigte den Beschluss des Landgerichts:
- Der Arzt hat zu Lebzeiten seiner Patienten seine ärztliche Schweigepflicht zu beachten. Das bedeutet, dass er in einem Zivilprozess unter Berufung auf seine Schweigepflicht betreffend die Pflegebedürftigkeit seiner Patienten das Zeugnis verweigern darf, so lange die Patienten ihn nicht von der Verpflichtung zur Verschwiegenheit entbinden.
- Die ärztliche Schweigepflicht reicht über den Tod der Patienten hinaus. Nach dem Tod der Patienten ist zu prüfen, ob sie zu Lebzeiten geäußert haben, dass der Arzt nach ihrem Tod schweigen soll bzw. dass er Angaben machen darf.
- Gibt es eine solche Äußerung nicht, ist der mutmaßliche Wille der Verstorbenen zu erforschen, also zu prüfen, ob sie die Offenlegung mutmaßlich gebilligt oder missbilligt hätten.
- Im Rahmen der Erforschung des mutmaßlichen Willens ist dem Arzt eine weitgehende eigene Entscheidungsbefugnis einzuräumen. Vor einer Aussageverweigerung muss er aber eine gewissenhafte Prüfung vornehmen und im Einzelnen darlegen, auf welche Belange des Erblassers sich seine Weigerung stützt.
- Nimmt der Arzt eine derartige Prüfung nicht selbst vor, kann das Gericht sie durchführen. Es darf mutmaßen, dass der Erblasser an einer gerechten Regelung betreffend seinen Nachlass interessiert gewesen wäre.
Anmerkung: Die Entscheidung entspricht im Ergebnis wohl dem Gerechtigkeitsempfinden. Die Begründung ist aber nicht ganz überzeugend; denn merkwürdigerweise erwähnt das Gericht nicht die Regelung des § 2057a BGB, die der Tochter einen gesetzlichen Anspruch auf angemessenen Ausgleich für erbrachte Pflegeleistungen einräumt. Der Pflegebedürftige würde gesetzwidrig handeln, wenn er die Realisierung dieses Anspruchs dadurch verhindert, dass er dem Arzt Aussagen über die Pflegebedürftigkeit untersagen würde. Deshalb wäre die Mutter zur Entbindung von der Schweigepflicht verpflichtet gewesen.