Pflegebedürftigkeit – Begriff und Begutachtung ab 1. Januar 2017
1. Pflegebedürftigkeit
Ab dem 1. Januar 2017 gelten für die Pflegebedürftigkeit und deren Feststellung neue Regelungen des Elften Buches des Sozialgesetzbuches - Soziale Pflegeversicherung (SGB XI).
Als pflegebedürftig gilt, wer gesundheitlich bedingte Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten aufweist und deshalb Hilfe durch andere benötigt (§ 14 SGB XI).
Die Pflegebedürftigkeit muss - wie bisher - auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate bestehen.
Für Anträge auf Leistungen der Pflegeversicherung, die vor dem 01.01.2017 gestellt worden sind, gelten die bis zum 31.12.2016 geltenden Regelungen zur Einstufung in Pflegestufen. Sie stellten überwiegend auf körperliche Beeinträchtigungen ab.
2. Antrag und Entscheidungsfrist
Die Feststellung der Pflegebedürftigkeit erfolgt, wenn Leistungen der Pflegeversicherung beantragt werden (§ 33 Abs. 1 Satz 1 SGB XI).
Wird vom 1. Januar 2017 bis zum 31.12.2017 ein Antrag auf Leistungen der Pflegeversicherung gestellt und liegt ein besonders dringlicher Entscheidungsbedarf vor, ist dem Antragsteller spätestens 25 Arbeitstage nach Eingang des Antrags bei der zuständigen Pflegekasse die Entscheidung der Pflegekasse schriftlich mitzuteilen (§ 142 Abs. 2 und § 18 Abs. 3 Satz 2 SGB XI).
Ab 2018 ist die Pflegekasse in jedem Falle verpflichtet, dem Antragsteller binnen 25 Arbeitstagen nach Eingang des Antrags ihre Entscheidung schriftlich mitzuteilen.
3. Feststellung der Pflegebedürftigkeit
Pflegebedürftige erhalten je nach der Schwere der Beeinträchtigungen, der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten einen Grad der Pflegebedürftigkeit (Pflegegrad). Fünf Pflegegrade werden vom Gesetz unterschieden. Sie berücksichtigen körperliche, kognitive und psychische Beeinträchtigungen sowie die Belastungen im Zusammenhang mit Krankheiten und damit verbundenen Therapien.
Die Zuordnung zu einem Pflegegrad hängt von der Zahl der gewichteten Punkte ab, die durch ein Pflegegutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) in sechs Modulen für die unterschiedenen Bereiche der Beeinträchtigung ermittelt werden. Die Bedeutung der Module für die Zuordnung zu einem Pflegegrad ist sehr unterschiedlich:
Beeinträchtigung im Bereich der |
Höchstzahl gewichteter Punkte |
|
Modul 1 |
Mobilität |
10 |
Modul 2 oder Modul 3 |
kognitive und kommunikative Fähigkeiten (Modul 2) oder Verhaltensweisen und psychische Problemlagen (Modul 3): nur das Modul mit dem höchsten Wert wird berücksichtigt |
15 |
Modul 4 |
Selbstversorgung |
40 |
Modul 5 |
Bewältigung von und selbständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen |
20 |
Modul 6 |
Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte |
15 |
In der Anlage 1 zum Pflegestärkungsgesetz II ist für jede Beeinträchtigung festgelegt, wie viele Einzelpunkte anzusetzen sind (§ 15 SGB XI). Diese Einzelpunkte müssen für die Bestimmung des Pflegegrades in "gewichtete Punkte" umgerechnet werden (Umrechnungstabelle am Ende dieses Beitrags).
Beispiel 1: Ist ein Antragsteller in der Mobilität beeinträchtigt, sind nach Modul 1 für ihn drei Einzelpunkte anzusetzen, wenn er Treppen nicht selbständig besteigen, und ein weiterer Pflegepunkt, wenn er sich überwiegend nicht selbständig in seinem Wohnbereich bewegen kann. Diese insgesamt vier Einzelpunkte in Modul 1 sind in fünf gewichtete Punkte umzurechnen.
Beispiel 2: Für ständiges höchst aggressives Verhalten können im Modul 3 bis zu 65 Einzelpunkte angesetzt werden. Nach der Umrechnungstabelle sind für die Module 2 und 3 aber insgesamt nur höchstens 15 gewichtete Punkte anzurechnen.
Die Gesamtzahl der gewichteten Punkte aus den sechs Modulen bestimmt den Pflegegrad (§ 15 SGB XI). Werden weniger als 12,5 Punkte erreicht, wird kein Pflegegrad zuerkannt.
Gesamtpunkte |
Pflegegrad |
12,5 bis unter 27 Gesamtpunkte |
Pflegegrad 1 |
27 bis unter 47,5 Gesamtpunkte |
Pflegegrad 2 |
47,5 bis unter 70 Gesamtpunkte |
Pflegegrad 3 |
70 bis unter 90 Gesamtpunkte |
Pflegegrad 4 |
90 bis 100 Gesamtpunkte |
Pflegegrad 5 |
Das Feststellungsverfahren umfasst somit folgende Schritte:
Begutachtung (Befragung und Beobachtung) |
V |
Bewertung der Beeinträchtigungen mit Einzelpunkten |
V |
Umrechnung der Einzelpunkte in gewichtete Punkte |
V |
Zuordnung des Pflegegrades |
Hinweise für Pflegebedürftige und Angehörige
Die Begutachtung findet nach vorheriger Ankündigung durch den Medizinischen Dienst in der Wohnung bzw. im Alten-oder Pflegeheim statt, in dem sich der Antragsteller aufhält. Sie kann bis zu einer Stunde dauern. Auf Wunsch des Antragstellers darf ein Angehöriger bei der Begutachtung anwesend sein und - soweit erforderlich - Beistand leisten.
Der Gutachter wird zunächst den Antragsteller ansprechen und dabei Fragen stellen, die sich auf Beeinträchtigungen der Selbständigkeit, deren Ausmaß und Häufigkeit des Eintretens beziehen (siehe unten Modul 1 bis 6). Viele Fragen können spontan nicht zutreffend beantwortet werden. Ihre Beantwortung setzt beispielsweise ein präzises Erinnerungs-, Artikulations- und Formulierungsvermögen voraus, über das Pflegebedürftige oft nicht mehr verfügen. Deshalb sind unrichtige Informationen und Missverständnisse nicht auszuschließen, die zu einer ungünstigen Entscheidung der Pflegekasse führen können.
Eine gründliche Vorbereitung auf die Begutachtung kann dazu beitragen, unrichtige Bewertungen durch den Medizinischen Dienst zu vermeiden: So früh wie möglich sollte begonnen werden, ein Pflegetagebuch zu führen, in dem der tägliche tatsächliche Pflegebedarf nach Art und Häufigkeit präzise dokumentiert wird. Anhand der Aufzeichnungen können der Antragsteller mit einer Person seines Vertrauens vor der Begutachtung dann überlegen, wie die Fragen zu den Modulen zutreffend beantwortet werden können und wie viele Einzelpunkte jeweils anzusetzen sind. Oft wird eine eindeutige Zuordnung zu einer Bewertung nicht möglich sein: Insoweit hat der Gutachter des MDK bei vielen Beeinträchtigungen einen großen Bewertungsspielraum. Die Zuordnung zu einem Pflegrad wird aber oft wegen eines einzigen fehlenden Punktes scheitern. Deshalb ist insbesondere in unsicheren Fällen bei jeder Bewertung einer Beeinträchtigung darauf zu achten, dass sie korrekt und nicht nachteilig ist.
Bei der Vorbereitung auf die Begutachtung können im Internet angebotene Pflegegradrechner nützlich sein. In der vom Medizinischen Dienst erstellten Fachinformation "Die Selbstständigkeit als Maß der Pflegebedürftigkeit" sind alle Beeinträchtigungen und deren Bewertungen genannt und ausführlich und anschaulich an Fallbeispielen erklärt.
www.pflegebegutachtung.de/downloads-links
3.1 Modul 1 - Mobilität
für Modul 1 höchstens 10 gewichtete Punkte
Das Modul umfasst fünf Bewegungsformen, deren Beeinträchtigungen mit jeweils 0 bis 3 Einzelpunkten gewertet werden:
- Positionswechsel im Bett,
- Halten einer stabilen Sitzposition,
- Umsetzen,
- Fortbewegen innerhalb des Wohnbereichs,
- das Treppensteigen.
3.2 Modul 2 - kognitive und kommunikative Fähigkeiten
für Module 2 und 3 insgesamt höchstens 15 gewichtete Punkte
Das Modul umfasst elf Fähigkeiten, deren Beeinträchtigungen mit jeweils 0 bis 3 Einzelpunkten gewertet werden:
- Erkennen von Personen aus dem näheren Umfeld,
- örtliche Orientierung,
- zeitliche Orientierung,
- Erinnern an wesentliche Ereignisse oder Beobachtungen,
- Steuern von mehrschrittigen Alltagshandlungen,
- Treffen von Entscheidungen im Alltagsleben,
- Verstehen von Sachverhalten und Informationen,
- Erkennen von Risiken und Gefahren,
- Mitteilen von elementaren Bedürfnissen,
- Verstehen von Aufforderungen,
- Beteiligen an einem Gespräch.
3.3 Modul 3 - Verhaltensweisen und psychische Problemlagen
für Module 2 und 3 insgesamt höchstens 15 gewichtete Punkte
Das Modul bewertet dreizehn Formen ungewöhnlichen Verhaltens mit jeweils bis zu 5 Einzelpunkten:
- motorisch geprägte Verhaltensauffälligkeiten,
- nächtliche Unruhe,
- selbstschädigendes und autoaggressives Verhalten,
- Beschädigen von Gegenständen,
- physisch aggressives Verhalten gegenüber anderen Personen,
- verbale Aggression,
- andere pflegerelevante vokale Auffälligkeiten,
- Abwehr pflegerischer und anderer unterstützender Maßnahmen,
- Wahnvorstellungen,
- Ängste,
- Antriebslosigkeit bei depressiver Stimmungslage,
- sozial inadäquate Verhaltensweisen,
- sonstige pflegerelevante inadäquate Handlungen.
3.4 Modul 4 - Selbstversorgung
für Modul 4 höchstens 40 gewichtete Punkte
Die Fertigkeiten im Bereich der Selbstversorgung werden jeweils mit bis zu 3 Punkten bewertet, die Unselbständigkeit beim Essen aber mit bis zu neun, und die Unselbständigkeit beim Trinken und bei der Toilettennutzung mit bis zu sechs Einzelpunkten. Gravierende Probleme bei der Nahrungsaufnahme bei Kindern bis zu 18 Monaten, die einen außergewöhnlich pflegeintensiven Hilfebedarf auslösen, sind mit 20 Einzelpunkten zu bewerten.
- Waschen des vorderen Oberkörpers,
- Körperpflege im Bereich des Kopfes,
- Waschen des Intimbereichs,
- Duschen und Baden einschließlich Waschen der Haare,
- An- und Auskleiden des Oberkörpers,
- An- und Auskleiden des Unterkörpers,
- mundgerechtes Zubereiten der Nahrung und Eingießen von Getränken,
- Essen,
- Trinken,
- Benutzen einer Toilette oder eines Toilettenstuhls,
- Bewältigen der Folgen einer Harninkontinenz und Umgang mit Dauerkatheter und Urostoma
- Bewältigen der Folgen einer Stuhlinkontinenz und Umgang mit Stoma
- Besonderheiten bei Sondenernährung,
- Besonderheiten bei parenteraler Ernährung.
3.5 Modul 5 - Bewältigung von und selbständiger Umgang mit
krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und
Belastungen
für Modul 5 höchstens 20 gewichtete Punkte
Je nach der durchschnittlichen Häufigkeit pro Tag werden je Maßnahme bis zu 3 Einzelpunkte angesetzt:
- Medikation,
- Injektionen (subcutan oder intramuskulär),
- Versorgung intravenöser Zugänge (Port),
- Absaugen und Sauerstoffgabe,
- Einreibungen oder Kälte- und Wärmeanwendungen,
- Therapiemaßnahmen in häuslicher Umgebung,
- Arztbesuche,
- Besuch anderer medizinischer oder therapeutischer Einrichtungen (bis zu drei Stunden),
- Zeitlich ausgedehnte Besuche anderer medizinischer oder therapeutischer Einrichtungen (länger als drei Stunden),
- Besuche von Einrichtungen zur Früh-förderung bei Kindern,
- Messung und Deutung von Körperzuständen,
- Körpernahe Hilfsmittel,
- Verbandswechsel und Wundversorgung,
- Versorgung mit Stoma,
- Regelmäßige Einmalkatheterisierung und Nutzung von Abführmethoden.
3.6 Modul 6 - Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte
für Modul 6 höchstens 15 gewichtete Punkte
Das Modul umfasst sechs Kriterien, deren Ausprägungen mit bis zu 3 Punkten gewertet werden:
- Gestaltung des Tagesablaufs und Anpassung an Veränderungen,
- Ruhen und Schlafen,
- Sich beschäftigen,
- Vornehmen von in die Zukunft gerichteten Planungen,
- Interaktion mit Personen im direkten Kontakt,
- Kontaktpflege zu Personen außerhalb des direkten Umfelds.
Module |
Gewichtung | 0* |
1* |
2* |
3* |
4* |
||
1. Mobilität |
10 % |
0 |
2-3 |
4-5 |
6-9 |
10-15 |
Summe der Einzelpunkte im Modul 1 |
|
0 |
2,5 |
5 |
7,5 |
10 |
Gewichtete Punkte im Modul 1 |
|||
2. Kognitive und kommunikative Fähigkeiten | 15 % |
0-1 |
2-5 |
6-10 |
11-16 |
17-33 |
Summe der Einzelpunkte im Modul 2 |
|
3. Verhaltensweisen und psychische Problemlagen |
0 |
1-2 |
3-4 |
5-6 |
7-65 |
Summe der Einzelpunkte im Modul 3 | ||
Höchster Wert aus Modul 2 oder Modul 3 | 0 |
3,75 |
7,5 |
11,25 |
15 |
Gewichtete Punkte für die Module 2 und 3 | ||
4. Selbstversorgung |
40 % |
0-2 |
3-7 |
8-18 |
19-36 |
37-54 |
Summe der Einzelpunkte im Modul 4 | |
0 |
10 |
20 |
30 |
40 |
Gewichtete Punkte im Modul 4 |
|||
5. Bewältigung von und selbständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen |
20 % |
0 |
1 |
2-3 | 4-5 |
6-15 |
Summe der Einzelpunkte im Modul 5 | |
0 |
5 |
10 | 15 |
20 |
Gewichtete Punkte im Modul 5 |
|||
6. Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte |
15 % |
0 |
1,3 |
4-6 |
7-11 |
12-18 |
Summe der Einzelpunkte im Modul 6 |
|
0 |
3,75 |
7,5 |
11,25 |
15 |
Gewichtete Punkte im Modul 6 | |||
7. Außerhäusliche Aktivitäten |
Die Berechnung einer Modulbewertung ist entbehrlich, da die Darstellung der qualitativen Ausprägung bei den einzelnen Kriterien ausreichend ist, um Anhaltspunkte für eine Versorgungs- und Pflegeplanung ableiten zu können. |
|||||||
8. Haushaltsführung |
* 0 = Keine; 1 = Geringe; 2 = Erhebliche; 3 = Schwere; 4 = Schwerste Beeinträchtigung
Die Tabelle gibt nicht alle Einzelheiten der Regelung wieder. Diese ist ausführlich dargestellt in der Anlage 1 zum SGB IX (www.gesetze-im-internet.de).