Persönliches Budget: Eilentscheidung zur Vermeidung des Wegfalls einer umfassenden Betreuung
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 14. März 2019 - 1 BvR 169/19
Der 1987 geborene schwerbehinderte Beschwerdeführer ist aufgrund einer frühkindlichen Hirnschädigung auf eine 24-Stunden-Betreuung angewiesen. Seit 2013 erhält er vom zuständigen Leistungsträger ein Persönliches Budget, mit welchem er seine Versorgung im Rahmen eines sogenannten Arbeitgebermodells selbst organisiert.
Nach einer Bedarfsfeststellung bewilligte der Leistungsträger mit Bescheid vom 14. Februar 2018 ein trägerübergreifendes Persönliches Budget im Umfang von lediglich 7.221 Euro monatlich und unter der aufschiebenden Bedingung, dass der Beschwerdeführer ein anderes Assistenzmodell etabliere, welches den von den beteiligten Sozialhilfeträgern ermittelten Spezifikationen entspreche. Dazu zählte er insbesondere die Beauftragung eines 24-Stunden-Betreuungsdienstes, etwa durch zwei mit dem Beschwerdeführer in seiner Wohnung wohnenden Kräften, anstelle des bisher vom Beschwerdeführer gewählten Arbeitgebermodells. Das Persönliche Budget für dieses sogenannte Entsendemodell setzt sich aus 5.000 Euro für den 24-Stunden-Betreuungsdienst, 775 Euro für den ambulanten Pflegedienst, 1.581,40 Euro für Leistungen der ergänzenden Eingliederungshilfe und 250 Euro für die Budgetassistenz zusammen.
Der Beschwerdeführer verlangte die Übernahme von Kosten in Höhe von insgesamt 13.321 Euro, weil u. a. die Kostenberechnung des Leistungsträgers nur 102 von 168 Stunden je Woche abdecke und außerdem ein Ausgleich für Urlaub, Krankheit und Unterbringung der 2-3 Assistenzkräfte in Einzelzimmern nicht berücksichtigt sei.
Das Landessozialgericht hatte den Leistungsträger zur vorläufigen Zahlung von 7.221 Euro monatlich verpflichtet, weil der Leistungsberechtigte nicht nachvollziehbar dargelegt habe, dass bei einer Umstrukturierung des Assistenzmodells seine Versorgung mit den vom Leistungsträger ermittelten 7.221 Euro nicht sicherzustellen sei.
Das Bundesverfassungsgericht hob diese Entscheidung teilweise auf und verpflichtete den Leistungsträger zur zusätzlichen Zahlung von 5.400 Euro monatlich als Persönliches Budget, weil der Leistungsberechtigte nachvollziehbar begründet habe, dass der Leistungsträger nur einen Bedarf für 102 von 168 Stunden wöchentlich abdecke und die Kosten der dauerhaften Aufnahme von zwei Pflegekräften nicht übernommen habe. Deshalb sei absehbar, dass der Leistungsberechtigte seine derzeit organisierte Betreuung nicht bis zum Abschluss des sozialgerichtlichen Hauptsacheverfahrens fortsetzen können wird. Er müsste während des Hauptsacheverfahrens seine Assistenten entlassen und sein Arbeitgebermodell auf das Entsendemodell umstellen. Dass ihm die Organisation und Finanzierung einer solchen Umstellung mit den derzeit zugesprochenen Mitteln gelingen kann, steht nach seinen Darlegungen in Frage. Gelänge die Umstellung aber nicht, bliebe er ohne die umfassende Assistenz, die er zum täglichen Leben unstreitig benötigt, und geriete dadurch in größte Not. Zudem bedeutete die Umstellung auf das Entsendemodell und damit auf die Betreuung durch zwei bei ihm in der Wohnung wohnende Personen eine erhebliche Veränderung seiner gesamten Lebenssituation, die seine Möglichkeiten selbstbestimmter Lebensgestaltung beschränke.
- Das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz erfordert eine Eilentscheidung, wenn ansonsten dem Betroffenen eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung seiner Rechte droht, die durch eine spätere Entscheidung im normalen Verfahren nicht mehr beseitigt werden könnte.
- Der gerichtliche Eilrechtsschutz erfordert keine Vollprüfung. Die Fachgerichte müssen vielmehr die Sach- und Rechtslage umso eingehender prüfen, je gewichtiger die drohende Grundrechtsverletzung und je höher ihre Eintrittswahrscheinlichkeit ist.
- Die Eilentscheidung kann sowohl auf eine Folgenabwägung wie auch auf eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache gestützt werden. Ist eine Klärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn die Entscheidung über die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes dann auf der Grundlage einer Folgenabwägung erfolgt.
Anmerkung: Das Bundesverfassungsgericht hat wieder einmal die Entscheidung eines Fachgerichts, hier eines Landessozialgerichts aufgehoben, die ohne Rücksicht auf die schwerwiegenden Folgen für den Betroffenen ergangen war und dessen Vorstellungen ohne sachliche Begründung und Prüfung einfach als "nicht nachvollziehbar" abqualifiziert hatte.
Für die Beratungspraxis ergibt sich daraus, dass die Verfassungsbeschwerde durchaus die letzte Rettungsmöglichkeit darstellen kann, wenn die Entscheidung eines Fachgerichts schwere verfassungsrechtliche Mängel aufweist, dem Betroffenen ein erheblicher Schaden droht, aber ein Rechtsmittel (Beschwerde, Berufung, Revision) nicht zulässig ist. Im vorliegenden Fall hat das Bundesverfassungsgericht seine Entscheidung ca. 6 Wochen nach Einlegung der Verfassungsbeschwerde getroffen.
Das "Merkblatt über die Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht" können Sie hier herunterladen.