Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkasse wegen Untätigkeit
1. Anwendungsbereich der Vorschrift
Die Vorschrift gilt für alle Leistungen, auch für Hilfsmittel, die von Krankenkassen zur Krankenbehandlung nach den gesetzlichen Vorschriften erbracht werden können. Ausgenommen sind aber reine Geldleistungen (z. B. Zuschüsse) und die Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, einschließlich der Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich (§ 13 Abs. 3a Satz 9 SGB V).
Beispiele: Ein Elektrorollstuhl, ein Therapiedreirad und eine Unterschenkelprothese sind nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts Hilfsmittel zum Ausgleich einer Behinderung und nicht Mittel zur Behandlung einer Krankheit.1
Für diese Leistungen zur medizinischen Rehabilitation gilt § 13 Abs. 3a SGB V nicht: Jedoch kann eine Selbstbeschaffung nach § 18 SGB IX zulässig sein (Sehen Sie hierzu den Beitrag "Leistungspflicht der Rehabilitationsträger wegen Untätigkeit").
2. Voraussetzungen der Genehmigungsfiktion
Die Krankenkasse ist aufgrund der Genehmigungsfiktion unter folgenden Voraussetzungen leistungspflichtig:
- Die Krankenkasse hat innerhalb der gesetzlichen Frist nicht über den Leistungsantrag entschieden.
- Der Versicherte ist im Verhältnis zu der in Anspruch genommenen Krankenkasse grundsätzlich leistungsberechtigt.
- Der Antrag des Versicherten ist hinreichend bestimmt und auf Leistung in Natur (z. B. Durchführung einer Operation) oder auf Kostenerstattung (z. B. Erstattung der Kosten einer bereits durchgeführten Operation) gerichtet.
- Der Antrag betrifft eine Leistung, die der Versicherte für erforderlich halten darf und die nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung liegt.
2.1 Entscheidungsfrist der Krankenkasse
Die Krankenkasse hat über einen Antrag auf Leistungen zügig, spätestens bis zum Ablauf von drei Wochen nach Antragseingang zu entscheiden (§ 33 Abs. 3a Satz 1 SGB V). Maßgeblich für den Fristbeginn ist der Eingang des Antrags bei der Krankenkasse. Hierbei ist es unerheblich, ob diese meint, der maßgebliche Sachverhalt sei noch aufzuklären.
Diese Frist verlängert sich in Fällen, in denen eine gutachtliche Stellungnahme, insbesondere des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung eingeholt wird, innerhalb von fünf Wochen nach Antragseingang zu entscheiden. Wenn die Krankenkasse eine gutachtliche Stellungnahme für erforderlich hält, hat sie diese unverzüglich einzuholen und die Leistungsberechtigten hierüber zu unterrichten.
Der Medizinische Dienst nimmt innerhalb von drei Wochen gutachtlich Stellung.
Wird ein im Bundesmantelvertrag für Zahnärzte vorgesehenes Gutachterverfahren durchgeführt, hat die Krankenkasse ab Antragseingang innerhalb von sechs Wochen zu entscheiden; der Gutachter nimmt innerhalb von vier Wochen Stellung.
2.2 Mitteilungspflicht bei Nichteinhaltung der Fristen
Kann die Krankenkasse die Fristen nicht einhalten, teilt sie dies den Leistungsberechtigten unter Darlegung der Gründe rechtzeitig schriftlich mit. Die Mitteilungspflicht besteht auch, wenn sie ein Gutachten einholen will (§ 13 Abs. 3a Satz 2 SGB V). Ohne diese Information kann der Leistungsberechtigte nach Ablauf von drei Wochen annehmen, dass sein Antrag als genehmigt gilt.2
Die schriftliche Information muss einen hinreichenden Grund benennen und über die voraussichtliche, taggenau bestimmte Dauer der Fristüberschreitung informieren, sonst ist sie nicht ausreichend.3
Ein hinreichender Grund für die Nichteinhaltung der Frist kann insbesondere vorliegen, wenn die Versicherten oder Dritte nicht genügend oder rechtzeitig bei einer körperlichen Untersuchung mitgewirkt oder von einem Gutachter angeforderte notwendige Unterlagen beigebracht haben.
2.3 Genehmigungsfiktion
Erfolgt keine Mitteilung eines hinreichenden Grundes, gilt der Antrag nach Ablauf der Frist als genehmigt, wenn
- er hinreichend bestimmt ist,
- die beantragte Leistung nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenkassen liegt und
- vom Antragsteller für erforderlich gehalten werden darf.
Hinreichend bestimmt ist ein Antrag, wenn er das Behandlungsziel klar erkennen lässt (z. B. Behandlung eines Karzinoms). Es ist nicht erforderlich, dass der Versicherte sich auf eine bestimmte Leistungsart - stationär oder ambulant - oder die Art der behandelnden Praxis bzw. des ggf. behandelnden Krankenhauses oder einen bestimmten Arzt festlegt, wenn verschiedene Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen und der Patient auf die Beratung des behandelnden Arztes angewiesen ist.4
Für erforderlich halten darf ein Versicherte nur eine Leistung, die nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der GKV liegt. Diese Einschränkung der Genehmigungsfiktion wird vom Gesetz zwar nicht ausdrücklich angeordnet, ergibt sich aber nach der Auffassung des Bundessozialgerichts sinngemäß aus dem Regelungszusammenhang und dem Zweck der gesetzlichen Regelung.5
Für erforderlich darf der Versicherte auch eine neue Behandlung halten, die vom Gemeinsamen Bundesausschuss (noch) nicht empfohlen wird, wenn der behandelnde Arzt diese neue Therapiemöglichkeit aus fachlicher Sicht befürwortet hat; denn vom Versicherten kann nicht erwartet werden, dass er die rechtlichen und medizinischen Voraussetzungen beurteilen und bewerten kann.6
3. Anspruch des Versicherten
Gilt eine beantragte Leistung als genehmigt, erwächst dem Antragsteller hieraus ein Naturalleistungsanspruch als eigenständig durchsetzbarer Anspruch. Der Anspruch ist auf Freistellung von der Zahlungspflicht gerichtet, wenn die Leistung von der Krankenkasse nicht als Naturalleistung erbracht werden kann.7
Beispiel: Die an einer Adipositas leidende Versicherte hat gegen die Krankenkasse einen Naturalleistungsanspruch auf Versorgung mit einer Operation zur Verkleinerung des Magenvolumens, wenn die Krankenkasse den Antrag der Versicherten auf Genehmigung der Operation nicht fristgerecht abgelehnt hat.
Ein Versicherter kann für eine ihm durch Genehmigungsfiktion zuerkannte Naturalleistung mit der allgemeinen Leistungsklage einen Vollstreckungstitel erstreiten, um sein Recht auf die vertretbare Handlung zu vollstrecken.
Anspruch auf Kostenerstattung haben Leistungsberechtigte, die nach Eintritt der Genehmigungsfiktion sich die subjektiv erforderliche Leistung selbst verschafft haben (§ 13 Abs. 3a Satz 7 SGB V).
4. Unwirksame spätere Ablehnung des
Leistungsantrags
Die Krankenkasse kann mit einer verspäteten Ablehnung der beantragten Leistung die fiktive Genehmigung nicht aufheben. Das gilt selbst dann, wenn der Versicherte objektiv keinen Rechtsanspruch auf die beantragte Leistung hat; denn der Gesetzgeber hat bewusst bestimmt, dass die Krankenkasse für die Fristversäumung bestraft wird ("Sanktionsnorm").8
1 Bundessozialgericht, Urteile vom 15.03.2018 - B 3 KR 12/17, Rn 1 und 18/17.
2 Bundessozialgericht, Urteil vom 06.11.2018 - B 1 KR 30/18, Rn 28.
3 Bundessozialgericht, Urteil vom 26.09.2017 - B 1 KR 8/17 R, Rn 29-30.
4 Bundessozialgericht, Urteil vom 11.07.2017 - B 1 KR 26/16 R, Rn 18.
5 Bundessozialgericht, Urteil vom 06.11.2018 - B 1 KR 30/18, Rn 30.
6 Bundessozialgericht, Urteil vom 06.11.2018 - B 1 KR 30/18, Rn 26.
7 Bundessozialgericht, Urteil vom 26.09.2017 - B 1 KR 8/17, Rn 11.
8 Bundessozialgericht, Urteil vom 06.11.2018 - B 1 KR 30/18, Rn 25.